"Flüchtlinge nehmen uns die Arbeitsplätze weg" - diese Angst scheint in Deutschland weit verbreitet zu sein. Diese Panik ist aber nicht angebracht, wie ein genauer Blick in Arbeitsmarktstudien belegt.
Es sind ernüchternde Zahlen, die von der Agentur für Arbeit kommen: Nur 40.000 der etwa 1,4 Millionen Flüchtlinge, die seit Sommer 2015 nach Deutschland eingereist sind, haben bereits einen regulären Job gefunden. Das weckt Befürchtungen in der Politik und der Bevölkerung: Überfordert die hohe Zahl der Flüchtlinge den Arbeitsmarkt?
Und auf der anderen Seite: Sind die Menschen aus Syrien, dem Irak und Afghanistan überhaupt in die deutsche Jobwelt integrierbar?
Wissenschaftler und Arbeitsmarktexperten tun sich mit einfachen Antworten schwer, zu außergewöhnlich sind die Einwanderungszahlen seit 2015. Es gibt keinen Präzedenzfall - allerdings sehr viele Studien, die Effekte von Migration auf Arbeitsmärkte untersuchen. Einige fördern erstaunliche Einsichten zutage, sie alle zeigen deutlich: Panik ist nicht angebracht.
Zusammen mit Dr. Matthias Knuth, dem Vorsitzenden der Deutschen Vereinigung für sozialwissenschaftliche Arbeitsmarktforschung, haben wir uns die wichtigsten Erkenntnisse aus der Forschung angesehen.
Einwanderung kann zu Jobverlusten führen
Zumindest kurzfristig kann der Effekt eintreten, dass mehr Flüchtlinge zu Jobverlusten führen, wie Albrecht Glitz in einer Studie anhand des Zuzugs von Spätaussiedlern nach Deutschland ab Mitte der 90er Jahre nachwies. Die Daten des Wirtschaftswissenschaftlers zeigten: Für zehn Migranten, die eine Arbeitsstelle antraten, verloren drei Einheimische ihren Job oder fanden keinen anderen. Betroffen waren vor allem junge und ältere Menschen.
Arbeitsmarktexperte Matthias Knuth empfiehlt jedoch, genauer auf den Einzelfall zu schauen: "Natürlich kann es sein, dass Migranten Arbeitsplätze besetzen, die etwa Langzeitarbeitslose hätten besetzen können - aber die sind von Unternehmen ohnehin oft nicht gewollt."
Langfristig gesehen ist der Effekt nahe Null
Der Effekt relativiert sich allerdings auf lange Sicht gesehen, stellt Amelie F. Constant vom Forschungsinstitut zur Zukunft der Arbeit fest, die in einem Aufsatz Studien und Daten aus OECD-Ländern vergleicht. Für die USA und die EU stellt sie sogar einen langfristig positiven Effekt von Einwanderung auf die Produktivität und auf die Arbeitsmarktsituation von Einheimischen fest.
Auch andere Meta-Studien - also Studien, die Forschungsergebnisse zusammenfassen - stellen im Ergebnis geringe Lohn- und Beschäftigungseffekte von Einwanderung fest: Erhöht sich der Anteil von Migranten an den Arbeitnehmer um ein Prozent, sinken die Löhne der Einheimischen um weniger als 0,1 Prozent und die Beschäftigungsquote um weniger als 0,026 Prozentpunkte – auf diese Werte kommt Simonetta Longhi von der Universität Essex.
Mindestlohn verhindert Senkung der Löhne durch Migranten
Die Arbeitsmarktforscher Herbert Brücker und Elke Jahn gehen sogar davon aus, dass einheimische Arbeitskräfte langfristig eher gewinnen, unabhängig von der Qualifikation würden die Löhne steigen und die Arbeitslosigkeit sinken.
Max Steinhardt von der Bundeswehr-Universität Hamburg hat in einer umfassenden Studie nachgewiesen, dass es im Zeitraum von 1975 bis 2001 sehr wohl bestimmte Bereiche gab, in denen Migranten den Lohn sehr stark gedrückt haben, zum Beispiel im Reinigungsgewerbe. Mittlerweile aber gilt der Mindestlohn, der solche Ausreißer verhindern soll.
Debatte beruht oft auf Ängsten statt Fakten
Die Debatte werde nicht mit solchen nüchternen Zahlen geführt, sondern hauptsächlich mit Ängsten – und dann unterliegen einige einem schlichten Denkfehler, sagt Matthias Knuth: "Die Leute glauben, es gäbe eine bestimmte Anzahl an Arbeitsplätzen, und die nehmen uns die Flüchtlinge weg. Die Dynamiken, die bei der Migration in Gang kommen, sehen viele nicht."
Dazu gehören der erhöhte Konsum durch mehr Einwohner, aber auch ein gesteigerter Bedarf an Infrastruktur: Laut "Handelsblatt" haben allein die Bundesländer als Reaktion auf die Flüchtlingsbewegung 24.000 neue Stellen im öffentlichen Dienst geschaffen, und das nach Jahren des Abbaus. An einigen Stellen des Arbeitsmarktes löst Einwanderung also eine Sonderkonjunktur aus, von der vor allem Einheimische profitieren.
Migranten nehmen "alteingesessenen" Einwanderern die Jobs weg
Die Verlierer von Einwanderung in den Arbeitsmarkt sind meist bereits ansässige Migranten - diese ohnehin weit verbreitete Annahme hat Simonetta Longhi in ihrer Meta-Studie bestätigt.
Sie verfügen über ähnliche Qualifikationen und bewerben sich um die gleichen Jobs wie die Neuankömmlinge, die meist gar nicht in Konkurrenz zu den Einheimischen treten, selbst wenn sie genauso gut ausgebildet sind.
Die Sozialsysteme profitieren von der Einwanderung
Auf den ersten Blick leuchtet das nicht ein: Angeblich sollen unsere Sozialsysteme profitieren durch die gestiegene Zahl der Migranten. Tatsächlich beanspruchen sie doch überdurchschnittlich häufig steuerfinanzierte Sozialleistungen wie Kindergeld und Hartz IV.
Allerdings wandelt sich der Effekt über die beitragsfinanzierten Systeme (Krankenversicherung, Rente) ins Positive. Migranten zahlen mehr in die Sozialsysteme ein, als sie daraus kassieren, wie unter anderen der Wirtschaftswissenschaftler Tito Boeri herausgearbeitet hat.
Erwerbsmigration hilft gegen Fachkräftemangel, Flüchtlingsmigration aber nicht
Den wichtigen Beitrag von ausländischen Arbeitskräften für die Entwicklung der Beschäftigtenzahlen in Deutschland fasst Oliver Koppel in einer Arbeit für das Institut der deutschen Wirtschaft Köln zusammen. Er hält besonders die Einwanderung aus Indien, aber auch aus Rumänien für Erfolgsgeschichten.
Koppels Bestandsaufnahme für Flüchtlinge fällt dagegen ernüchternd aus. Der Anteil von Menschen aus Afghanistan, Eritrea, Irak und Syrien an der Gesamtbevölkerung ist zwischen Anfang 2012 und Anfang 2015 um 70 Prozent gestiegen, die sozialversicherungspflichtige Tätigkeit im selben Zeitraum aber nur um 28 Prozent. Nur vereinzelt gibt es Lichtblicke – so ist jeder 20. ausländische Arzt in Deutschland Syrer.
Koppel weist darauf hin, dass die Erwerbsmigranten und Flüchtlinge nicht vermischt werden sollten. Wer hierher kommt, um Geld zu verdienen, hat in der Regel gute Chancen am Arbeitsmarkt. Wer sich in Sicherheit bringt, sucht sein Ziel dagegen nicht nach der Wahrscheinlichkeit aus, einen Job zu bekommen.
"Man sollte es analytisch trennen und politisch verbinden", sagt Arbeitsforscher Knuth. Was er damit meint: Er will den sogenannten "Spurwechsel" vereinfachen. Wer im Asylverfahren steckt, hat mit hohen Hürden zu kämpfen, um eine Ausbildung oder einen Job antreten zu können. Deswegen sollte es einfacher werden, sich aus dem Asylverfahren herauszuziehen und sich als Erwerbsmigrant zu bewerben.
Das Bildungsniveau vieler Flüchtlinge ist zu gering
Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge hat Anfang des Jahres einen Bericht über die "Qualifikationsstruktur, Arbeitsmarktbeteiligung und Zukunftsorientierungen" herausgebracht – mit nur 2.800 Befragten.
"Das ist eine Notlösung, damit man überhaupt etwas weiß", urteilt Knuth, "aber der Befund ist ja in der Tendenz wohl richtig." 13 Prozent der Befragten haben keine Schule besucht, zwei Drittel haben keine Ausbildung. Diese Zahlen erklären den geringen Erfolg am Arbeitsmarkt.
Die meisten Flüchtlinge wollen arbeiten
Die Autorinnen der Studie registrieren allerdings ein hohes Maß an Motivation. Eine aktuelle Studie des Berlin-Instituts für Bevölkerung führt das auf den Druck zurück, möglichst schnell Geld zu verdienen, um die Familien in der Heimat zu unterstützen. Deswegen ziehe es die Flüchtlinge in Hilfsjobs, statt in Ausbildungen.
Das ist ein Problem, meint auch Knuth: "Wir müssen den Menschen das duale System nahebringen und sie nicht in kurzfristige Jobs lassen, wo sie Gefahr laufen, langzeitarbeitslos zu werden. Wir müssen auch Menschen mit Mitte 30 noch in eine Ausbildung führen, das muss anders funktionieren als üblich."
Je besser die Sprachkenntnis, desto größer die Chancen
Ein kaum überraschender Befund, den Herbert Brücker in einer Arbeit für das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung mit Zahlen unterfüttert: Migranten, die gut deutsch sprechen, haben es leichter als solche, die schlecht deutsch sprechen - sie bekommen eher einen Arbeitsplatz, verdienen 20 Prozent mehr und landen mit einer 20 Prozentpunkte höheren Wahrscheinlichkeit in einem Job, der ihrer Ausbildung entspricht.
Die Daten hält Matthias Knuth für valide, er warnt aber davor, daraus die falschen Schlüsse zu ziehen: "Ich richte mich dagegen, Sprache als Vorwand dafür zu benutzen, dass Geflüchtete auf die Teilnahme an der deutschen Arbeitswelt länger warten müssen. Wie soll Integration funktionieren, wenn alle erstmal die Sprache perfekt sprechen müssen?"
Die Integration in den Arbeitsmarkt wird viel Geld kosten
Migranten in den Arbeitsmarkt zu integrieren, wird teuer. Wie teuer, das weiß niemand so genau. Das Institut der deutschen Wirtschaft spricht von jährlich 3,5 Milliarden Euro zusätzlich. Die reine Zahl lässt Matthias Knuth eher kalt: "Es gibt keine Alternative dazu, diese Menschen so gut es geht in den Arbeitsmarkt zu integrieren, egal was es kostet."
Diese Integration hat zwei Seiten: Wer sich der deutschen Gesellschaft anpasst und Kontakte zu Einheimischen pflegt, hat mehr Erfolg auf dem Arbeitsmarkt, hat das Wissenschaftszentrum Berlin herausgefunden. Die Forscher haben sich gefragt, warum Muslime überproportional zu den Verlierern am Arbeitsmarkt gehören.
Die Antwort: Dafür sind nicht nur die ebenfalls wirksamen Diskriminierungseffekte verantwortlich, sondern auch eine soziokulturelle Abschottung. Knuth illustriert das mit einem Beispiel: "Wenn Frauen es für unmöglich halten, im Beruf fremde Männer zu waschen, fällt schon mal ein möglicher Beruf weg."
Migranten sind Teil der Lösung
Es könnte allerdings sein, dass die ausgeprägte Neigung von Migranten zur Unternehmensgründung hier Abhilfe schafft, meint Knuth: "Es wäre interessant, ob es für solche Menschen über Unternehmensgründer aus demselben Kulturkreis dann Möglichkeiten gibt."
Die Bertelsmann-Stiftung hat gerade herausgefunden, dass die Zahl der Selbständigen mit Migrationshintergrund von 567.000 im Jahr 2005 auf über 700.000 im Jahr 2014 gestiegen ist.
Dadurch haben Migranten 1,3 Millionen Jobs geschaffen – ein "Jobmotor", wie die Autoren schreiben. Knuth ist sich unsicher, ob die Migranten auf diesem Weg nicht einfach Hürden auf dem Arbeitsmarkt ausweichen. "Das kennen wir nicht nur von Migranten, sondern auch von älteren Menschen." Hinzu kämen kulturelle Faktoren: In den Herkunftsländern ist die Industrie nicht ausgebildet und Selbständigkeit weit verbreitet.
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