Täglich kommen Tausende Flüchtlinge über die deutsch-österreichische Grenzen nahe Passau. Die bayerische Stadt ist mittlerweile zum Drehkreuz der Flüchtlingskrise geworden. Viele der Schutzsuchenden haben unsägliche Strapazen hinter sich. Über die Situation vor Ort, wie es den Frauen, Kindern und Männern ergeht, berichtet unsere Reportage aus Passau.
Es ist trüb, feucht und bitterkalt am deutsch-österreichischen Grenzübergang Achleiten bei Passau. Etwas Nebel hält sich seit dem Morgen über der eisigen Donau. Hunderte Flüchtlinge – Frauen, Männer und Kinder – warten auf der österreichischen Seite geduldig auf ihre Weiterfahrt nach Deutschland.
Um sich gegen die Kälte zu schützen, haben sie sich eingepackt in dicke Anoraks, Tücher und Decken, ihre Mützen und Kapuzen über den Kopf gezogen. Doch mit jeder Minute im Freien kriecht die Kälte tiefer in die Knochen.
Eine kleine Gruppe Flüchtlinge steht gedrängt hinter dem ersten Absperrzaun Richtung Deutschland. Sie sind die nächsten, die von der Bundespolizei hier abgeholt werden und mit dem Bus in eine warme Halle nach Passau gebracht werden. Ihre Gesichter sind gezeichnet von den Strapazen der Flucht aus Syrien, Afghanistan und dem Irak: Die Augen sind dunkel umrandet, die Haut ist fahl, die Blicke leer und fragend. Wochenlang waren sie auf der beschwerlichen Balkanroute unterwegs, haben gehungert, Durst gelitten, gefroren.
Frieren in Achleiten
Und sie frieren auch hier in Achleiten. Die feucht-kühle Luft macht ihren warmen Atem sichtbar. Doch niemand jammert, selbst die Kleinsten weinen nicht. Im Gegenteil, trotz ihrer Strapazen spielen sie Fangen, sie kichern, lächeln und winken den Polizisten und Journalisten zu.
Ein kleines Mädchen in einem verschmutzten Anorak klammert sich an seinem Bruder fest. Plötzlich reißt es sich los, rennt durch die Absperrung auf die deutsche Seite. Das Mädchen hüpft, lacht und strahlt über das ganze Gesicht. Seine dunklen Augen blitzen frech.
Das Mädchen gehört zu einer syrischen Familie. Der Vater, Faisal, entschuldigt sich für das Verhalten seiner Tochter und versucht, sie zu sich zu rufen. Doch das Mädchen mit den fehlenden Milchzähnen mag nicht hören - es mag spielen. Und so erzählt Faisal von der harten, kräftezehrenden Flucht aus Syrien. Der 48-Jährige sei mit seiner Frau und den sechs Kindern über den Balkan geflohen.
Dass sie jetzt am deutsch-österreichischen Grenzübergang zwei oder drei Stunden warten müssten, sei in Ordnung. Die Familie habe Schlimmeres auf ihrer Flucht erlebt. Er beklagt den nervenaufreibenden Weg durch Serbien. Man habe kein Wasser bekommen, nichts zu essen.
Die Familie habe auf dem nackten, kalten Boden ohne Dach über dem Kopf zwei Tage in der klirrenden Kälte ausharren müssen – inmitten von Bergen aus Müll. Auf seinem Smartphone zeigt er erschütternde Bilder aus den Flüchtlingscamps in Slowenien: Hunderte Menschen, die im Dreck lungern. "Meine Kinder sind krank geworden. Die Jüngste hatte eine schwere Erkältung." Er sei froh, jetzt seine Familie in Sicherheit zu wissen.
"Warum macht hier keiner etwas?"
In Deutschland wolle die Familie aber nicht bleiben. Es zieht sie nach Schweden. Der 48-Jährige erhofft sich für seine Familie, endlich in Frieden leben zu können, ohne die täglichen Bombardements, ohne das Leid, ohne Verfolgung. Inständig fleht er, Europa solle endlich den Krieg in Syrien beenden. "Bitte, bitte macht etwas. Das Töten darf nicht weitergehen. Warum macht hier keiner etwas?" Die Verzweiflung steht ihm ins Gesicht geschrieben, auch weil er seine Angehörigen hier im fernen Österreich telefonisch nicht erreichen kann, wie er sagt. Er wisse nicht, wie es ihnen daheim in Syrien geht. Er könne ihnen nicht sagen, dass seine Familie das Martyrium der Flucht überlebt hat. Seine Frau will auch etwas sagen, doch sie kann kein Englisch. Also verständigt sie sich mit Körpersprache: Es ist eine flehende Geste - beide Hände gefaltet an den Mund gelegt.
Die kleine Tochter spielt immer noch auf deutscher Seite. Dann rennt sie freudestrahlend in die Arme ihres Bruders. Die beiden schmiegen sich aneinander und lachen.
Kinder suchen Zuflucht in Kartons
Doch so unbeschwert, wie die Kinder heute hier spielen, ist es in den vergangen Tagen nicht immer gewesen. Tags zuvor suchten Kleinkinder in alten Kartons Zuflucht vor der Kälte. Besonders gegen Abend wird es kritisch, weiß Frank Koller, Sprecher der Bundespolizeiinspektion Freyung. Kleinkinder und Säuglinge müssten stundenlang in der Kälte ausharren. Einige Kinder seien schon mit Unterkühlung ins Krankenhaus gekommen. Das macht die erfahrenen Polizisten, die schon beim G7-Gipfel in Elmau im Einsatz waren, schwer zu schaffen.
"Vor allem frierende Kinder zu sehen, das ist das Schlimmste", sagt Koller, der selbst Familienvater ist. Besonders der Einsatz der letzten Tage belaste die Polizisten vor Ort schon sehr. Es gehe an keinem spurlos vorüber, wenn Hunderte Menschen nachts in der Kälte stünden. Angst habe man, hier irgendwann die erste "Horrormeldung" herausgeben zu müssen – die von einem erfrorenen Flüchtling. Schon jetzt herrschen im Herbst nachts Temperaturen um den Nullpunkt. Wie das im Winter werden soll, mag sich hier keiner ausmalen.
Dass die Flüchtlinge an der Grenze so lange warten müssen, hat vor allem mit der Abstimmung zwischen österreichischen und deutschen Verantwortlichen zu tun. Täglich kommen Dutzende Busse aus Österreich an – und das manchmal in so kurzen Abständen, dass die deutschen Polizisten den Massenandrang nicht so schnell bewältigen können. Man versuche zwar die Flüchtlinge schnell mit Bussen weiterzuleiten, allerdings sei es in den letzten Tagen eine enorme Herausforderung gewesen, die Migranten dann auch zügig unterzubringen.
Vor allem in der Nacht zum Mittwoch seien Flüchtlinge in großer Zahl von österreichischer Seite an die Grenze gebracht worden. In Wegscheid habe die Bundespolizei bis nachts um drei Uhr die Abtransporte regeln müssen. "Die Verfahrensabläufe nehmen uns langsam den Mut", sagt Koller vor Ort. Warum die Busse nicht einfach bis zu den Erstaufnahmezentren fahren, darauf hat der Sprecher keine Antwort. Das würde auf anderer Ebene entschieden.
Auch für den Donnerstag befürchtet die Bundespolizei, dass es zu ähnlichen Szenarien kommt. Deshalb versucht Koller schon den ganzen Tag über, diesem möglichen Fall vorrausschauend zu begegnen und mit allen Dienststellen die Informationen aus Österreich stündlich, manchmal sogar minütlich abzugleichen.
Wer es wie Faisal und seine Familie bis zur deutsch-österreichischen Grenze geschafft hat, muss aus dem warmen Bus raus in die Kälte. Dann gibt es von den Helfern des Österreichischen Roten Kreuzes erst einmal warmes Essen, Wasser und Obst. Doch Flüchtlinge, die schneller weiterreisen wollen, werden hier am warmen Eintopf nicht lange verweilen.
Schon gegen Nachmittag wird es richtig kalt. "In den Abendstunden haben wir Temperaturen um den Gefrierpunkt", sagt Koller. Gut also, wer jetzt schon den nächsten Bus nach Deutschland erwischt. Und so stellen sich die meisten Flüchtlinge lieber schnell in die dreißig Meter lange Schlange hinter der Grenze, die im gesamten Tagesverlauf nicht kleiner wird, weil ständig neue Busse ankommen.
Voller Sehnsucht, voller Träume
Die müden Augen von Faisal und seiner Familie hinter der Absperrung blicken erwartungsvoll Richtung Deutschland. Sie sind geduldig, diszipliniert und voller Sehnsucht - voller Träume. Dann kommt Bewegung in die ersten Reihen hinter der Grenzabsperrung. Die Bundespolizei zählt die nächsten Flüchtlinge für die Busse ab. "Ganz wichtig ist es, dass wir hier keine Familien auseinanderreißen", erklärt Koller das bedächtige Vorgehen seiner Kollegen.
Beeindruckend fand er einen kleinen Jungen, der mit seinen beiden Schwestern tags zuvor von seinen Eltern getrennt wurde. Der Junge habe die beiden kleinen Mädchen so lange hin und her dirigiert und zur Ordnung gerufen, bis alle wieder beisammen waren. "Der kleine Bub hat das so souverän gelöst. Das hat mich schwer beeindruckt."
Faisal und seine Familie haben es in den warmen Bus geschafft. Es bleibt zu hoffen, dass sie in Schweden ihren Frieden finden. Denn das ist es, was sich Flüchtlinge wie Faisal und seine Familie am meisten wünschen.
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