Der Flüchtlingsdeal zwischen der Europäischen Union und der Türkei droht zu platzen. Dies hat der türkische Präsident Erdogan nach der Empfehlung des EU-Parlaments, die Verhandlungen zum EU-Beitritt der Türkei auszusetzen, angedroht. Was passiert, wenn der Deal tatsächlich scheitert?
Das Flüchtlingsabkommen erfüllt seine gewünschte Wirkung. Die im März beschlossene Vereinbarung zwischen der EU und der Türkei hat dazu beigetragen, die Zahl der Migranten auf der Balkanroute deutlich zu reduzieren. Denn immer weniger Menschen wagen die lebensgefährliche Überfahrt von der Türkei auf die griechischen Inseln.
Im Gegenzug hat die EU Ankara Visa-Erleichterungen für türkische Staatsbürger sowie Milliarden Euro für die Flüchtlingshilfe in Aussicht gestellt. Zudem will sie dem Land Migranten auf legalem Wege abnehmen und auf die EU-Staaten verteilen.
Erdogan: Todesstrafe als Druckmittel
Nach der (rechtlich nicht bindenden) Empfehlung des Europäischen Parlaments, die EU-Beitrittsverhandlungen auszusetzen, steht das Abkommen auf der Kippe. Die Konsequenzen könnten enorm sein: Die Türkei droht damit, sich ganz von Europa abzuwenden.
Und Erdogan warnt die EU weiter: Der türkische Präsident kündigte an, der Wiedereinführung der Todesstrafe zuzustimmen. Bei einer Rede am Freitag in Istanbul: "Demokratie besteht darin, den Willen des Volkes zu respektieren", sagte Erdogan.
Kann Erdogan einfach die Grenzen öffnen und den Flüchtlingspakt brechen?
Abkommen werden vereinbart - und sie können wieder gebrochen werden. Das wäre nichts Neues in der Geschichte der Politik. Und das gilt auch für das umstrittene und auf tönernen Füßen stehende Flüchtlingsabkommen. Kritiker sagen, die EU habe sich von einem Despoten abhängig gemacht und seine eigenen Werte verraten.
Auch Erdogan liebäugelt nach der EU-Parlamentsempfehlung mit dem Ende der Vereinbarung. "Wenn Sie noch weiter gehen, werden die Grenzen geöffnet, merken Sie sich das", sagte er. Er warf der EU vor, Versprechen gebrochen zu haben.
Welche Konsequenzen hätte ein Scheitern des Flüchtlingsabkommens für die EU?
Experten sind uneins, welche Maßnahme einen größeren Einfluss auf die Verringerung der Flüchtlingszahlen hatte: das Schließen der Balkanroute oder das EU-Türkei-Abkommen? Sollte die Türken ihre Grenzen tatsächlich wieder durchlässiger machen, sind die Folgen schwer absehbar. "Möglich ist, dass wegen der geschlossenen Balkan-Route die Zahl derjenigen, die sich auf den Weg machen, begrenzt bleibt", sagt der Brüsseler ARD-Korrespondent Kai Küstner. "Aber als wahrscheinlicher gilt, dass dann das ohnehin instabile Griechenland ein Riesenproblem bekommt, weil die Schutzsuchenden dort stranden."
Das krisengeschüttelte Land droht damit, zu einem gigantischen Flüchtlings-Auffanglager zu werden. Schon jetzt harren rund 60.000 Menschen unter teils katastrophalen Bedingungen dort aus. Tausende weitere sind auf der Balkanroute gestrandet, wo sie mit Hilfe von Schleppern nach illegalen Wegen in die EU suchen.
Sollte es zu einer erneuten Flüchtlingswelle kommen, hätte das viel neues Leid zur Folge und es wäre ein Armutszeugnis für die Flüchtlingspolitik der EU. Das Scheitern des Abkommens, so kurz nach der Vereinbarung mit Ankara, käme zudem einer diplomatischen Blamage gleich. Bei erneut steigenden Flüchtlingszahlen würden rechtspopulistische Bewegungen wahrscheinlich weiter Zulauf bekommen.
Ist die türkische Abwendung von der EU mehr als nur eine Drohung?
2005 begannen die offiziellen EU-Beitrittsgespräche zwischen Brüssel und Ankara. Nachdem der damalige - von vielen als Hoffnungsträger gefeierte - Ministerpräsident Erdogan das Reformtempo anzog, wurde der Türkei eine positive Entwicklung bescheinigt. Nach den Repressionen gegen Oppositionelle und vermeintliche Kritiker seit dem gescheiterten Militärputsch im Juli sind die Beziehungen auf einem Tiefpunkt angelangt.
Wie ernst es die Türkei mit ihrer Drohung meint, der EU den Rücken zu kehren, ist unklar: Es gibt widersprüchliche Signale aus Ankara. Noch vor eine Woche sagte der türkische EU-Botschafter Selim Yenel der "Welt": "Die EU-Mitgliedschaft bleibt unser Ziel." Auch Erdogan äußerte unlängst die Vision, zum 100-jährigen Geburtstag der Türkei im Jahr 2023, die EU-Mitgliedschaft zu vollenden. Später sagte er, sein Land brauche einen EU-Beitritt "nicht um jeden Preis". Ja, was denn nun?
Sicher ist: Die Beziehungen zwischen dem Nato-Mitglied Türkei und Europa sind eng. Es leben nicht nur Millionen türkische Staatsbürger in der EU, Europa ist auch der wichtigste Handelspartner Ankaras. Wahrscheinlich ist, dass Erdogan im Moment sehr hoch pokert.
Was brächte der Türkei eine Hinwendung der Türkei zu Russland und China?
In den vergangenen Monaten intensivierte Erdogan die Kontakte zu Russland und China. Beide Länder sind mit Kasachstan, Kirgistan, Tadschikistan und Usbekistan in der 2001 gegründeten Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SCO) organisiert. In der Sicherheits- und Handelsorganisation besitzen die Türken derzeit den Status eines Gesprächspartners ohne Stimmrecht.
Erdogan liebäugelte zuletzt sogar mit einem Beitritt.
Damit könnte die Türkei politisch deutlich freier agieren. Nur: Die SCO wurde auch deswegen gegründet, um den Einfluss der USA in Zentralasien zu begrenzen. Beobachter sind uneins, ob eine SCO-Mitgliedschaft mit einer Mitgliedschaft in der Nato vereinbar wäre. "Die nachlassende Strahlkraft der EU, die durch den Brexit beschleunigt wird, lässt die aufstrebenden Märkte und Mächte in Zentralasien und China für Ankara verlockender erscheinen", analysiert Ramon Schack im "Cicero".
Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, dass Erdogan doch noch einlenkt?
Das EU-Parlament verurteilte in seiner Resolution das Vorgehen der Türkei gegen Staatsbedienstete, Medien und Oppositionelle nach dem Putschversuch. Es handele sich dabei um "unverhältnismäßige Repressionen", so die Parlamentarier. Die Regierung bringe die Türkei durch ihr Handeln weiter "vom europäischen Pfad" ab.
Erdogan verkündete seine Missachtung über die Abstimmung schon vor dem Ergebnis. "Ich rufe allen, die uns vor den Bildschirmen zusehen, und der ganzen Welt zu: Egal, wie das Resultat ausfällt, diese Abstimmung hat für uns keinen Wert."
Für weiteren Zündstoff sorgen die türkischen Gedankenspiele, die Todesstrafe wieder einzuführen - auch da gab es mahnende Stimmen von führenden EU-Politikern. Der türkische Präsident ließ sich davon nicht beeindrucken. Der EU scheinen die Druckmittel auszugehen.
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