Es war ein Wochenende der Kehrtwenden in der deutschen Politik. Nachdem Bundeskanzlerin Angela Merkel und Innenminister Thomas de Maiziére für ihre Willkommenspolitik in der Flüchtlingskrise arg gescholten worden waren, führt Deutschland am Sonntag plötzlich wieder Grenzkontrollen ein. Die Lage am Hauptbahnhof in München war kaum mehr zu bewältigen gewesen. Mehr als 19.000 Flüchtlinge waren am Wochenende in der bayerischen Landeshauptstadt angekommen.
Das vergangene Wochenende könnte die deutsche Politik in der Flüchtlingskrise nachhaltig beeinflussen. Es war das Wochenende der Entscheidungen für Bundeskanzlerin
Freitag: Kritik aus der CSU
Bereits am Freitag hatte die Diskussion um die Willkommenspolitik Deutschlands Fahrt aufgenommen. Der frühere Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich (CSU) hatte die Entscheidung der Bundesregierung, Flüchtlinge unkontrolliert ins Land zu lassen, eine "beispiellose politische Fehlleistung" genannt. Bayerns Finanzminister Markus Söder sprach von einer Überforderung Deutschlands. CSU-Chef Horst Seehofer kritisierte Merkels Entscheidung vom vergangenen Wochenende, Flüchtlinge aus Ungarn nach Deutschland reisen zu lassen. "Das war ein Fehler, der uns noch lange beschäftigen wird. Ich sehe keine Möglichkeit, den Stöpsel wieder auf die Flasche zu kriegen", sagte er dem "Spiegel". Deutschland komme bald in "eine nicht mehr zu beherrschende Notlage".
Samstag: München ruft um Hilfe
Noch am Samstag verteidigte Merkel ihren Kurs in der Flüchtlingskrise und widersprach der Kritik aus Bayern. Sie sei weiterhin fest davon überzeugt, dass die Entscheidung in der vergangenen Woche richtig gewesen sei. Deutschland werde seiner Verantwortung gerecht, wenn es um die Hilfe von Schutzbedürftigen gehe.
Währenddessen appellierte Münchens Oberbürgermeister Dieter Reiter an die Bundesregierung und die restlichen Bundesländer, Bayerns Landeshauptstadt nicht im Stich zu lassen. Allein am Samstag waren mehr als 12.000 Flüchtlinge in der Stadt eingetroffen. Nicht alle konnten sofort untergebracht werden, einige schliefen auf Matten im Bahnhof. Seit Ende August hat München bereits 63.000 Flüchtlinge empfangen und versorgt.
Innenminister Thomas de Maizière (CDU) mahnte, das Tempo des Zuzugs müsse verringert werden: "Wir müssen jetzt schnell wieder zu den geregelten Verfahren zurückkehren", sagte der CDU-Politiker dem Berliner "Tagesspiegel" (Sonntag). Vizekanzler Sigmar Gabriel (SPD) sprach von einer Situation, in der Deutschland an Grenzen stoße. "Die Geschwindigkeit ist fast noch problematischer als die Zahl", sagte der SPD-Chef bei einer Veranstaltung in Hildesheim.
Für internationale Empörung sorgte der rechtsnationale ungarische Regierungschef Viktor Orban. Er hatte in der "Bild" damit gedroht, Flüchtlinge abzuschieben. Sie sollten "dorthin, wo sie herkommen", sagte er. Der österreichische Bundeskanzler Werner Faymann verglich Orbans Vorgehen in der Flüchtlingskrise mit der NS-Rassenpolitik. "Menschenrechte nach Religionen zu unterteilen ist unerträglich", sagte der Sozialdemokrat dem Magazin "Der Spiegel". "Flüchtlinge in Züge zu stecken in dem Glauben, sie würden ganz woandershin fahren, weckt Erinnerungen an die dunkelste Zeit unseres Kontinents."
Sonntag: der Paukenschlag
Am Sonntag dann der Paukenschlag: Deutschland führt wieder Grenzkontrollen ein. Schwerpunkt sei zunächst die Grenze nach Österreich, kündigte Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) am Sonntag in Berlin an. Dieser Schritt "wird nicht alle Probleme lösen, das wissen wir", sagte er. "Aber wir brauchen einfach etwas mehr Zeit und ein gewisses Maß an Ordnung an unseren Grenzen." Die Deutsche Bahn unterbrach den Zugverkehr von und nach Österreich bis zu diesem Montagmorgen um 6.00 Uhr. De Maizière betonte in seiner Erklärung: "Ziel dieser Maßnahme ist es, den derzeitigen Zustrom nach Deutschland zu begrenzen und wieder zu einem geordneten Verfahren bei der Einreise zu kommen. Das ist auch aus Sicherheitsgründen dringend erforderlich." Die Entscheidung sei "in der Koalition einvernehmlich beraten und beschlossen worden". Die Innenminister der Länder hätten zugestimmt. Die Opposition habe er persönlich unterrichtet. Auch die Regierung in Wien sei konsultiert worden. Die Hilfsbereitschaft dürfe nicht überstrapaziert werden. Der Schritt sei auch ein Signal an Europa. Deutschland stelle sich seiner humanitären Verantwortung, betonte der Minister. Die Lasten müssten aber solidarisch verteilt werden.
Und an die Asylsuchenden folgt die Mahnung: Sie müssten akzeptieren, "dass sie sich einem Mitgliedsstaat der Europäischen Union, der ihnen Schutz gewährt, nicht einfach aussuchen können." Ganz viele wollen aber nicht nach Ungarn, das keine Muslime aufnehmen will und Familienväter mit Schlagstöcken traktiert, dass sie unter Tränen rufen: "Ich will zu Mama Merkel."
Merkel und de Maizières Zick-Zack-Kurs stößt auch auf viel Kritik. Die Kanzlerin hatte mit der Öffnung Deutschlands für Flüchtlinge und der dadurch ausgelösten Willkommenskultur hohe Erwartungen geweckt. Nun besteht die Gefahr der Enttäuschung. Der Grünen-Vorsitzende Cem Özdemir merkte an, die Flüchtlinge seien durch die Grenzkontrollen ja nicht aus der Welt, "sondern wir verlagern das Problem an das jeweils nächste Land", sagte er im "Deutschlandfunk". "Wenn jetzt jeder nach dem Prinzip "Ich bin mir selbst der Nächste" handelt, dann kann man die Europäische Union auch gleich auflösen."
Speziell die CSU sieht sich durch die Entscheidung der Bundesregierung in ihrer Kritik vom Freitag bestätigt. CSU-Generalsekretär Andreas Scheuer konnte sich das Siegesgeheul nicht verkneifen: "Die Stimme der Vernunft in der Flüchtlingspolitik heißt CSU", ließ er verlauten; endlich würden auch andere vernünftig.
CSU-Chef
Überschattet wurde die Einführung der Grenzkontrollen von einem Sprengstoff-Alarm am Münchner Hauptbahnhof. Dort hatte ein Spürhund angeschlagen. Ein Großteil des Bahnhofs musste evakuiert werden. Der Alarm habe entgegen verschiedener Spekulationen jedoch nichts mit den Flüchtlingen zu tun, hatte der Sprecher der Bundespolizei, Simon Hegewald versichert. Nach rund zwei Stunden konnte Entwarnung gegeben werden.
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