Das amerikanische Zeitalter ist vorbei und wir leben in einer multipolaren Welt, hört man dieser Tage oft. Politologe Frank Sauer widerspricht: Die Wirklichkeit ist nicht so einfach. Ein Interview über die Kriege in Gaza und der Ukraine, das Konzert der Großmächte und die Rolle Deutschlands.

Ein Interview

Der brutale Hamas-Angriff auf Israel am 7. Oktober hat viele Gewissheiten über die Region erschüttert. Und während der Westen seine Aufmerksamkeit nach Nahost lenkt, geht der Krieg in der Ukraine unvermindert weiter. Globale Politik, so scheint es, wird immer komplizierter. Zeit, einmal zu fragen: In was für einer Welt leben wir gerade?

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Frank Sauer gibt im Interview mit unserer Redaktion Antworten. Der Politologe von der Universität der Bundeswehr München kritisiert die Tendenz, "komplexe Sachverhalte unter einfachen Schlagworten zusammenzufassen". Man muss genauer hinschauen, fordert er.

Herr Sauer, leben wir seit dem Hamas-Angriff auf Israel am 7. Oktober in einer anderen Welt?

Auf uns in Europa trifft das nicht in dem Maße zu, wie das nach dem russischen Angriff auf die Ukraine im Februar 2022 der Fall war. Für die Israelis gilt das aber ohne Zweifel. Der Hamas-Angriff wird oft mit dem 11. September 2001 verglichen, was ich in vielerlei Hinsicht für sehr treffend halte. Das Ereignis ist ein sehr tief sitzender Schock für Israel. Mit Blick auf die Wucht und das bestialische Ausmaß der Gewalt sind es vergleichbare Terrorangriffe.

Die Folgen des Anschlags auf die World Trade Center in New York beschäftigen uns bis heute. Könnte der 7. Oktober ähnlich bedeutsam werden?

Das wissen wir noch nicht. Auch die Auswirkungen des 11. September erkennen wir nur im Rückblick. Ein Unterschied ist hoffentlich, dass aus dem 11. September und allem, was danach folgte, Lehren gezogen wurden. Das versucht die US-Regierung unter Präsident Joe Biden auch an die israelische Regierung zu übermitteln. Die Zukunft ist aber ungeschrieben.

"Das internationale Stimmungsbild könnte sich zugunsten Russlands verschieben."

Frank Sauer

Zeichnet sich jetzt schon ab, wer zu den Profiteuren der Situation in Nahost gehört?

Der Hamas ist eine Änderung des Status Quo gelungen. Ihr erklärtes Ziel war es, Israel einen "permanenten Kriegszustand" aufzuzwingen und diesen zu erhalten, um damit den Nahostkonflikt und die Palästinenserfrage zu ihrer alten Relevanz zurückzuführen. Zumindest kurzfristig hat die Hamas damit Erfolg gehabt. Langfristig könnte es anders laufen: Mein Eindruck ist, dass der Wille der anderen arabischen Staaten nicht sehr groß ist, den befürchteten Flächenbrand in der Region wirklich auszulösen. Das war es aber, worauf die Hamas spekuliert hatte.

Die Aufmerksamkeit des Westens hat sich von der Ukraine in Richtung Nahost verschoben. Nutzt das dem russischen Präsidenten Wladimir Putin?

In dreierlei Hinsicht profitiert Putin von der Situation. Erstens, das haben Sie angesprochen, kann man sich in den westlichen Hauptstädten nicht mit der gleichen Intensität beiden Konflikten widmen. Zweitens können die USA jede Artilleriegranate, die sie nach Israel liefern, eben nicht in die Ukraine liefern. Drittens droht eine diplomatische Verschiebung in der Welt: Bisher hat auch der globale Süden die Anliegen des Westens in der Ukraine unterstützt. Mit Blick auf Gaza machen nun aber einige dieser Staaten dem Westen den Vorwurf des Doppelstandards, den ich mir explizit nicht zu eigen mache. Aber diese Länder sagen: Der Westen verurteilt israelische Kriegsverbrechen nicht in demselben Maße wie russische. Das könnte das internationale Stimmungsbild zugunsten Russlands verschieben.

Es gibt Analysten, die die beiden Kriege als ein und denselben globalen Konflikt betrachten. Finden Sie das plausibel?

Nein. Die Konfliktursachen vor Ort werden bei diesem Erklärungsversuch ignoriert. Wir haben es mit sehr unterschiedlichen Kriegen, mit unterschiedlichen Motiven, Hintergründen und politischen Konstellationen zu tun. Es gibt in den vergangenen paar Wochen eine Tendenz, komplexe Sachverhalte unter einfachen Schlagworten zusammenzufassen.

Zum Beispiel?

Etwa der Begriff "Multipolarität". Der Argumentationsgang dabei geht so, dass die unipolare Hegemonie der USA zu Ende sei und die globale Ordnung nun von mehreren mächtigen Akteuren, unter anderem China, Russland oder Indien, geprägt würde. Mit dem Narrativ der Multipolarität wird dann erklärt, warum es gerade sowohl in der Ukraine als auch in Israel Krieg gibt. Das ist intellektuell faul. Wenn man sich die beiden Konflikte genauer anschaut, stellt man fest, dass es mehr Unterschiede als Gemeinsamkeiten gibt.

"Die chinesische Navy kommt noch längst nicht an die amerikanische heran."

Frank Sauer

Warum ist die Erzählung vom Ende der US-amerikanischen Vorherrschaft in der Welt zu einfach?

Erstens spielen die USA nach wie vor militärisch in ihrer eigenen Liga. Das ist eine völlig andere Größenordnung als zum Beispiel Russland. Das gilt in vielerlei Hinsicht auch für China, dessen Navy in Sachen Qualität noch längst nicht an die amerikanische herankommt. Zweitens sprechen auch die ökonomischen Kennzahlen für die USA. Russland hatte vor dem Krieg eine Wirtschaftsleistung vergleichbar mit der von Italien und China sitzt wegen seiner stark alternden Bevölkerung auf einer demografischen Bombe. Drittens entfalten die USA nach wie vor die größte Innovationskraft. Wichtige technische Entwicklungen, etwa im Bereich der künstlichen Intelligenz, werden überwiegend dort gemacht.

"Die USA haben womöglich doch den Zenit ihrer Macht überschritten"

Leben wir also nach wie vor im amerikanischen Zeitalter?

Mit großer Betonung auf "noch". Die USA haben womöglich doch den Zenit ihrer Macht überschritten. Das Ende ihrer Vorherrschaft wird aber wahrscheinlich weder militärische noch ökonomische oder technologische Ursachen haben, sondern politische. Die USA werden den unipolaren Moment verloren haben, wenn sie nach einer erneuten Wahl Donald Trumps oder eines vergleichbaren Politikers endgültig im innenpolitischen Chaos versinken.

Boris Pistorius

Verteidigungsminister Boris Pistorius: "Wir müssen kriegstüchtig werden"

Boris Pistorius hat in einer ZDF-Sendung davor gewarnt, dass die Gefahr eines Krieges in Europa drohen könnte. Darum müsse die Modernisierung der Bundeswehr schnell voranschreiten. (Photocredit: picture alliance/dpa/Michael Kappeler)

Deutschland, immerhin die viertgrößte globale Wirtschaftsmacht, blieb von Ihnen bisher völlig unerwähnt. Spielt die Bundesrepublik im Konzert der Großmächte überhaupt eine Rolle?

Deutschland allein tut das nicht. Deutschland als Teil der Europäischen Union schon eher. Diese wird aber zunehmend an Einfluss verlieren, wenn sie an entscheidenden Punkten nicht deutlich handlungsfähiger wird. Es bräuchte etwa qualifizierte Mehrheiten mit Blick auf außenpolitische Entscheidungen, die bisher Einstimmigkeit erfordern. Zudem wäre eine militärische Integration der EU-Länder wichtig. In der Welt, in der wir leben, verleiht nun mal auch militärische Stärke diplomatisches Gewicht.

Der deutsche Verteidigungsminister, Boris Pistorius (SPD), hat den Anspruch formuliert, Deutschland zu einer "Führungsmacht" in der Nato zu machen. Wie weit ist die Bundesrepublik davon entfernt?

In militärischer Hinsicht noch weit. Wir haben mit dem Sondervermögen 100 Milliarden Euro in die Hand genommen und sind dabei, dieses langsam, aber stetig auszugeben. Eine durchschlagende Wirkung hat das jedoch natürlich noch nicht gezeigt, sodass man sagen könnte, wir seien eine militärische Führungsmacht in Europa. Genau das hat Kanzler Olaf Scholz aber angekündigt. Nach meinem Eindruck fehlt in Teilen der jetzigen Regierung aber vor allem das Verständnis dafür, was politisch damit einhergehen müsste. Politisch wird dieser Führungsanspruch von Deutschland nicht im Mindesten ausgefüllt. Das hieße nämlich Ziele zu setzen, Menschen für eine bessere europäische Zukunft zu begeistern und harte Überzeugungsarbeit zu leisten.

Pistorius sprach davon, Deutschland müsse "kriegstüchtig" werden. Kritik an dieser Rhetorik kam auch aus der SPD selbst. Ralf Stegner sagte: "Die Zeitenwende darf keine Militarisierung des Denkens bewirken."

Ich will auch keine Militarisierung des Denkens. Ich glaube aber, dass diese Befürchtung völlig unbegründet ist. Über den Begriff der Kriegstüchtigkeit lässt sich streiten, und ich persönlich hätte ihn nicht verwendet. Aber wenn man nicht nur dieses eine Wort von Pistorius nimmt, sondern sich ganz anhört, was er gesagt hat, dann müsste auch Herr Stegner seinem Gedankengang folgen können. Dieser lautet: Wenn jemand Deutschland, Europa oder der Nato einen Krieg aufzwingt, dann müssen wir in der Lage sein, diesen Krieg zu führen und bestenfalls auch zu gewinnen. Wenn wir davon nicht ausgehen, dann können wir uns gleich ergeben und überrennen lassen. Das steht auch im Grundgesetz: Der Bund stellt Streitkräfte zur Verteidigung auf. Und wenn wir diese Streitkräfte haben, dann müssen die zur Verteidigung auch funktionieren.

Wie groß ist die Kriegsgefahr für Deutschland derzeit?

Mit Russland haben wir einen großen revisionistischen Staat mit neo-imperialistischen Gelüsten in unserer Nachbarschaft. In den vergangenen Jahren hat Putin immer wieder seine Nachbarstaaten angegriffen, zuletzt zum zweiten Mal die Ukraine. Aus deutscher Sicht wäre es naiv zu glauben, dass danach schon nichts mehr Schlimmes passieren wird. Das wäre die Wiederholung desselben Fehlers, den wir viele Jahre lang im Umgang mit Russland gemacht haben und den wir eigentlich nie wieder machen wollten. Meine Befürchtung ist aber, dass wir teilweise wieder in den Dornröschenschlaf entschlummert sind, wie wir ihn schon vor dem 24. Februar 2022 geschlafen haben.

Über den Gesprächspartner:

  • PD Dr. Frank Sauer ist Experte für internationale Politik. Er hat Politikwissenschaft, Soziologie, Philosophie und Rechtswissenschaft an der Goethe-Universität Frankfurt studiert. Nach seiner Promotion in Frankfurt habilitierte er an der Universität der Bundeswehr München. Dort ist er seit 2023 Privatdozent. Sauer tritt regelmäßig als Experte im Fernsehen auf und ist Co-Host des Podcasts "Sicherheitshalber".
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