"Deutschland ist ein Einwanderungsland", sagt Friedrich Merz. Er sagt aber auch: Im Kampf gegen den Fachkräftemangel gehe es zunächst darum, Potenziale im Inland auszuschöpfen. Im Interview mit unserer Redaktion spricht der CDU-Vorsitzende und Oppositionsführer zudem über die Klimapolitik, den öffentlich-rechtlichen Rundfunk – und seine Kritik am Führungsverhalten des Bundeskanzlers.
Herr
Friedrich Merz: Das kommt auf Bundesebene gegenwärtig nicht infrage.
Warum nicht?
Es hat 2021 eine Bundestagswahl gegeben. Die SPD ist im Bundestag stärkste Fraktion geworden, hatte damit den Auftrag für die Regierungsbildung und hat diesen Auftrag mit Grünen und FDP angenommen. Die aktuelle Bundesregierung ist gewählt und muss jetzt ihre Arbeit leisten.
Sie haben vor kurzem gesagt, die Ampel-Koalition sei "stehend k. o.". Ihr Generalsekretär Mario Czaja spricht von der "schlechtesten Bundesregierung, die Deutschland je hatte". Wenn Sie das ernst meinen, müssten Sie doch alles daransetzen, diese Koalition abzulösen.
Selbstverständlich. Der nächste reguläre Bundestagswahltermin ist im September 2025. Darauf arbeiten wir hin. Wenn sich zwischendurch die Regierungskrise weiter verschärft, wird der Bundeskanzler irgendwann die Vertrauensfrage stellen müssen. Aber es ist nicht unsere Aufgabe, das herbeizuführen.
Glauben Sie, die Ampel-Koalition hält bis 2025 durch?
Das müssen Sie die Koalitionspartner fragen. Wenn ich dieses ewige Gezänk sehe, kommen mir zunehmend Zweifel. Aber die Entscheidung darüber liegt nicht bei mir.
Eine sogenannte Jamaika-Koalition aus CDU/CSU, Grünen und FDP wäre nach der Bundestagswahl zumindest rechnerisch ebenfalls möglich gewesen. Angenommen, Sie würden zusammen mit Grünen und FDP regieren und müssten mit deren Dauerstreit umgehen: Was würden Sie anders machen als der jetzige Bundeskanzler?
Man muss das von Personen und Parteien lösen und sich eher fragen, wie eine Bundesregierung zusammenarbeiten sollte. Mir ist unklar, welche Strategie dahintersteckt, dass der Bundeskanzler über Wochen wichtige Ressortminister öffentlich streiten lässt, ohne selbst zur Lösung beizutragen. Ich halte so ein Führungsverhalten für einen Fehler. Wenn ich die CDU und die Bundestagsfraktion so führen würde, dann stünden wir nicht da, wo wir heute stehen.
Was machen Sie anders?
Wir haben in der Union auch Meinungsverschiedenheiten. Aber wir führen diese Diskussionen hinter verschlossenen Türen und treten danach mit einer gemeinsamen Position an die Öffentlichkeit. Das müsste einem Bundeskanzler, der seine Führungsverantwortung ernst nimmt, doch auch gelingen.
In der Bundesregierung macht gerade jeder Ressortminister, was er will. Es gibt offenbar keine politische Koordinierung, nicht durch den Bundeskanzler und nicht durch seinen Kanzleramtsminister. Der Chef des Bundeskanzleramts hat eine wichtige koordinierende Funktion. Dafür ist er da. Welche Rolle spielt eigentlich gerade das Bundeskanzleramt in diesen vielen Auseinandersetzungen zwischen den Ministern? Ich kann die Frage nicht beantworten.
Friedrich Merz zum Fachkräftemangel: "Die Ausschöpfung des eigenen Potenzials muss Priorität haben"
Ein massives Problem in Deutschland ist der Fachkräftemangel. Was muss die Politik dagegen unternehmen?
Erstens: Wir haben in Deutschland mehr als zwei Millionen Arbeitslose und gleichzeitig fast zwei Millionen offene Stellen. Zweitens: Jeder Mensch aus einem der anderen 26 EU-Mitgliedsstaaten könnte nach Deutschland kommen und arbeiten. Die Tatsache, dass Millionen Europäer das nicht machen, zeigt doch, dass in unserem Arbeitsmarkt etwas nicht in Ordnung ist. Wir haben sogar eine Fachkräfte-Abwanderung aus Deutschland. Der Arbeitsmarkt ist zu bürokratisch, es gibt zu hohe Steuern und Sozialversicherungsbeiträge. Wir könnten auch ohne zusätzliche Einwanderung eine ganze Menge tun, um den Arbeitskräftebedarf zu decken. Die Ausschöpfung des eigenen Potenzials muss Priorität haben.
Reichen wird das aber wohl nicht.
Eine Lücke wird wahrscheinlich bleiben. Dann müssen wir gezielt um die Fachkräfte werben, die wir zurzeit nicht haben. Die Unionsfraktion hat dazu einen sehr präzisen Vorschlag gemacht: Wir wollen eine Einwanderungsagentur schaffen, die Arbeits- und Aufenthaltsgenehmigung aus einer Hand und digital ermöglicht.
Ist Deutschland also ein Einwanderungsland?
Deutschland ist seit Jahrzehnten ein Einwanderungsland.
Die CDU hat sich mit dieser Feststellung aber lange schwergetan.
Ich verwende diesen Begriff seit Jahren und habe kein Problem damit.
Müssen Sie in Ihrer Partei da noch Überzeugungsarbeit leisten?
Nein, wir sind uns in der Bewertung einig: Deutschland ist ein Einwanderungsland. Allerdings sind wir zurzeit überwiegend ein Land der ungeregelten Einwanderung in die Sozialsysteme und nicht der gesteuerten Einwanderung in den Arbeitsmarkt. Das ist der falsche Weg. Unterm Strich müssen wir alle zusammen die Frage beantworten: Wo sollen für zusätzliche Einwanderer die Wohnungen, Schulen, Krankenhäuser, Kindergärten herkommen? Die Infrastruktur dieses Landes ist für rund 80 Millionen Einwohner ausgelegt. Wir haben jetzt schon 84 Millionen und sehen, dass zusätzliche Einwanderung an vielen Stellen nicht so einfach zu verkraften ist. Das mögen bitte diejenigen bedenken, die vorschnell nach großen Einwanderungszahlen rufen.
Merz: "Müssen uns bemühen, irreguläre Zuwanderung zu reduzieren"
Die Unionsparteien haben in der vergangenen Woche einen Flüchtlingsgipfel veranstaltet. Vertreter der Kommunen fordern, dass der Bund sie bei der Unterbringung von Asylbewerbern stärker unterstützt. Wird mehr Geld reichen?
Nein. Wir müssen uns auch bemühen, die irreguläre Zuwanderung in die Bundesrepublik zu reduzieren. Abgelehnte Asylbewerber aus Marokko, Tunesien, Algerien oder Georgien können wir zurzeit nicht ordnungsgemäß zurückführen, weil sich die Grünen weigern, diese Länder als sichere Herkunftsstaaten einzustufen. Wir kriegen ja noch nicht einmal schwer straffällig gewordene Afghanen nach Afghanistan zurückgeführt. Alles das muss sich ändern.
In Afghanistan herrschen die radikalislamischen Taliban. Wollen Sie dorthin wirklich Menschen abschieben lassen?
Zumindest muss man das erwägen. Wenn Afghanistan auf Dauer so eingestuft wird, dass man niemanden dorthin zurückschicken kann, haben wir ein Problem.
Rückführungen scheitern häufig daran, dass Herkunftsstaaten sich weigern, abgeschobene Menschen aufzunehmen.
Die Bundesregierung hat dazu das getan, was im Koalitionsvertrag vereinbart war: Sie hat einen Beauftragten zum Thema benannt. Mit einem Jahr Verspätung, aber immerhin. Wir brauchen jetzt Rückführungsabkommen mit verschiedenen Staaten. Von solchen Abkommen kann man zum Beispiel Entwicklungshilfe, diplomatische Beziehungen oder die Erteilung von Visa abhängig machen.
Die meisten Asylbewerber kommen derzeit aus Syrien und Afghanistan. Gegenüber diesen Staaten hat die Bundesregierung solche Druckmittel nicht, weil sie mit ihnen gar nicht zusammenarbeitet.
Deswegen müssen die europäischen Außengrenzen besser geschützt werden. Dort müssen Asylzentren entstehen, in denen Flüchtlinge ihre Anträge stellen. Und dann müssen sie innerhalb der Europäischen Union verteilt werden. Eine Einigung dazu auf europäischer Ebene ist überfällig. Es können nicht alle nach Deutschland kommen.
Merz: "Wir haben so viel CO2 eingespart wie nur wenige andere Länder auf dieser Welt"
Ein anderes Thema, das derzeit viele Menschen auf unterschiedliche Weise beschäftigt, ist die Klimapolitik. Die Bandbreite der Meinungen ist auch in der CDU groß: Es gibt auf der einen Seite Menschen, die den menschengemachten Klimawandel bezweifeln und es gibt auf der anderen Seite die Klima-Union, die eine deutlich entschlossenere Klimapolitik fordert.
Die Klima-Union ist keine Organisation der CDU und hat daher auch keinerlei Legitimation, für irgendein Thema im Namen der Partei zu sprechen. Für die Klimapolitik spricht die CDU als Ganzes. Und da gibt es eine ganz klare Haltung, die ich voll und ganz unterstütze: Wir haben mit dem Klimawandel ein ernsthaftes Problem. Es ist jenseits von Krieg und Frieden wahrscheinlich das größte Problem, das wir in den nächsten Jahrzehnten lösen müssen.
Und wie?
Die Herausforderungen des Klimawandels lassen sich nicht mit Verboten lösen, sondern nur mit modernster Technologie. Ich bin gerade im Karlsruher Institut für Technologie gewesen. Es wäre gut, wenn sich auch das eine oder andere Mitglied der Bundesregierung mal informieren würde, woran dort geforscht und gearbeitet wird: CO2-Vermeidung, CO2-Abscheidung, CO2-Wiederverwertung bis hin zu einem kompletten Kreislauf, der über die Wasserstoff-Technologie dafür sorgt, dass wir weniger CO2 in der Luft haben und es in Zukunft besser verwerten.
In den vergangenen Jahren hat die Politik häufig die Haltung vermittelt: Wir setzen uns ehrgeizige Ziele zur Reduzierung von Emissionen, muten den Menschen aber nichts zu und setzen auf technologischen Fortschritt. Das hat bisher eher zu klimapolitischem Nichtstun geführt.
Da widerspreche ich Ihnen massiv, denn das Gegenteil ist richtig: Wir haben in Deutschland die CO2-Emissionen von 1990 bis 2020 um 40 Prozent gesenkt und die Wirtschaftsleistung hat sich in diesen 30 Jahren verdoppelt. Wir haben so viel CO2 eingespart wie nur wenige andere Länder auf dieser Welt. Das ist mit der marktwirtschaftlichen Ordnung und mit Technologie gelungen und nicht dagegen. Genau diesen Weg müssen wir weitergehen.
Damit nehmen Sie die Menschen aus der Verantwortung. Können die Bürgerinnen und Bürger so weitermachen und auf die passenden Technologien warten?
Nein, es geht um eine Mischung aus Ordnungsrecht und Technologie. Ich denke, die Bevölkerung hat eine hohe Bereitschaft, etwas für den Klimaschutz zu tun. Wir sehen allerdings in Umfragen auch, dass das Thema bei der Bevölkerung längst nicht den Stellenwert hat, den Teile der Bundesregierung gerne hätten. Die Bevölkerung macht sich auch um andere Themen große Sorgen. Umso mehr ist es eine Führungsaufgabe der Politik, dafür zu sorgen, dass Ökonomie und Ökologie miteinander versöhnt werden.
"Die öffentlich-rechtlichen Sender haben keinen Volkserziehungsauftrag"
Vor rund einem Jahr gab es betont harmonische Bilder von Ihnen und CSU-Chef
Unverändert gut. Wir arbeiten sehr kollegial zusammen.
Von der CSU aus Bayern kommt bisweilen sehr deftige Rhetorik – zum Beispiel gegen gendergerechte Sprache im öffentlich-rechtlichen Rundfunk. Markus Söder hat dazu vor kurzem auf Twitter geschrieben: "Für so einen Unsinn braucht es keine Zwangsgebühren." Das klingt fast wie die AfD, die auch von Zwangsgebühren spricht.
Die Kritik an wokem Unfug muss eine Demokratie aushalten – und das muss auch der öffentlich-rechtliche Rundfunk akzeptieren. ARD und ZDF reden in dieser Sprache über die Köpfe der Mehrheit der Bevölkerung hinweg. Außerdem haben die öffentlich-rechtlichen Sender keinen Volkserziehungsauftrag, sondern sie sollen Informationen verbreiten und das politische Meinungsspektrum abbilden. Und das tun sie mit einem solchen Unfug gerade nicht. Deswegen teile ich voll und ganz, was Markus Söder und andere dazu gesagt haben.
Sonst klingen Sie häufig verbindender als Markus Söder. Die CSU zum Beispiel schießt sich auf die Grünen ein. Sie dagegen haben gerade den grünen Vizekanzler Robert Habeck gelobt.
Ich bin auf einer Veranstaltung vor zwei Wochen gefragt worden, was ich von Herrn Habeck halte. Und ich habe gesagt, dass ich ihn persönlich nicht unsympathisch finde. Ich kritisiere aber hart, was er in der Sache politisch macht. Auch da bin ich mir mit Markus Söder völlig einig. Habeck macht die falsche Wirtschafts- und Energiepolitik. Das werden wir auch in Zukunft deutlich kritisieren. Trotzdem kann man persönlich anständig miteinander umgehen.
Auf einer Regionalkonferenz in Münster haben Sie vor kurzem gesagt: "Es geht mit den Grünen in Regierungsverantwortung sogar besser als gedacht."
Damit habe ich die Landesregierung in Nordrhein-Westfalen gemeint. Die arbeitet in der Tat besser als von dem einen oder anderen erwartet. Das gilt zum Beispiel auch für die Landesregierung in Hessen. Aber Landespolitik ist Landespolitik. In der Bundespolitik bleibt unsere Kritik an den Grünen sehr hart und konkret.
Sie schließen eine Koalition mit den Grünen auf Bundesebene aber in Zukunft nicht aus?
Es geht jetzt zunächst einmal um die aktuelle Bundesregierung und ihre Arbeit – und nicht um Koalitionen der Zukunft.
Wann entscheiden Sie, ob Sie als Kanzlerkandidat der Unionsparteien in den nächsten Bundestagswahlkampf ziehen?
Wir werden Entscheidungen treffen, wenn sie anstehen. Eine Bundestagswahl muss gut vorbereitet sein. Dafür muss ungefähr ein Jahr vorher Klarheit darüber bestehen, wer der Kanzlerkandidat der Union wird. Daraus ergibt sich alles Weitere.
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