Ryyan Alshebl ist Bürgermeister der Gemeinde Ostelsheim in Baden-Württemberg. Der gebürtige Syrer spricht im Interview mit unserer Redaktion über die Pläne der Ampel, die Asylgesetzgebung zu verschärfen und die aktuelle Debatte über Migration.
Seit dem 19. Juni 2023 hat das Dorf Ostelsheim einen neuen Bürgermeister mit syrischen Wurzeln: Ryyan Alshebl. Er setzte sich Anfang April gegen zwei weitere parteilose Kandidaten mit einer absoluten Mehrheit von 55,41 Prozent der Stimmen durch. Der ehemalige Geflüchtete muss sich in seiner Gemeinde um die Folgen von Überbelastung durch Flüchtlinge kümmern und gerät dadurch in ein moralisches Dilemma.
Herr Alshebl, Sie sind zwar als parteiloser Kandidat Bürgermeister geworden, aber Mitglied der Grünen. Am vergangenen Wochenende war Parteitag und Ihre Partei hat sich dafür ausgesprochen, die verschärfte Asylpolitik der Ampel mitzutragen. Wie geht es Ihnen damit?
Ryyan Alshebl: Es ist eine Frage, die für mich auf zwei Ebenen beantwortet werden kann und sollte. Die Erste ist die, die mich als Person mit entsprechendem Hintergrund betrifft. Da finde ich es natürlich bedauerlich. Ich kann mich in die Lage derer versetzen, die von dieser Verschärfung betroffen sind. Wenn wir es konkret auf meinen Fall übertragen würden: Wäre ich nicht 2015, sondern 2023 nach Deutschland gekommen, dann wäre ich vermutlich nicht in acht Jahren Bürgermeister geworden.
Warum?
Durch die Verschärfung des Asylverfahrens sorgt man vermutlich für weniger Zugänge in unser Sozialsystem. Auf der anderen Seite ist es auch ein Hindernis für viele, die keinen Asylanspruch hätten, aber einen Gewinn für dieses Land und Europa darstellen könnten.
Sie sind aber auch Politiker …
Ja. Auf der politischen Ebene, also realpolitisch, haben die Grünen gerade ungefähr 14 bis 15 Prozent der Wählerstimmen laut Umfragen. Man kann sich jetzt querstellen und sagen, wir gehen da nicht mit und gefährdet das gesamtpolitische Vorhaben …
… und lässt womöglich die Ampel platzen.
Genau. Und das würde bedeuten, man kann auch nicht mehr mitgestalten und Dinge verhindern. Ein Beispiel: Ursprünglich waren deutlich schärfere Kontrollen an den Außengrenzen geplant als es jetzt im aktuellen Entwurf angedacht ist. Das haben die Grünen in der Regierung bewirkt.
Sie sind als Kommunalpolitiker auch dafür verantwortlich, Geflüchtete unterzubringen. Wie schwierig ist das im Moment?
In der politischen Debatte wird das aktuell als Katastrophe dargestellt. So ist es aber nicht. Es ist ein Problem, das gelöst werden kann und soll. Die Lösung kann sein, dass es weniger Zugangszahlen gibt – das liegt aber nicht in meiner Hand – oder die Kapazitäten zu erweitern. Letzteres müsste man faktisch zwischen den Kommunen oder durch Unterstützung des Landes oder Bundes erreichen. Das ist eine Herausforderung. Die Lage auf dem Immobilienmarkt ist schwierig. Dazu kommt noch im ländlichen Raum, dass die Vermieter eher skeptischer sind als in den Städten. Wenn es darum geht, Geflüchtete unterzubringen, ist starke Ablehnung da.
Weil es sich um Geflüchtete handelt?
Nein, nicht unbedingt deshalb. Viele haben Vorbehalte bei der Vorstellung, dass das eigene Haus die direkte Anschluss-Unterkunft nach der Unterbringung in einer Flüchtlingsunterkunft wird. Sie würden sie lieber an private Interessenten vermieten. Aber die Frage der Unterbringung ist für mich nicht das wichtigste Problem.
Was ist Ihrer Meinung nach das größere Problem?
Es ist eine Ansammlung von verschiedenen Problemen. Die Unterbringung von Geflüchteten ist eines davon, aber auch die Frage, wie machen wir die Schulen und Kitas fit für die Kinder, die zu uns kommen. Denn die haben ja ein Recht darauf, genau dasselbe Angebot zu bekommen, wie die Kinder, die schon da waren. Da darf man niemanden benachteiligen. Hier erwarte ich vom Land, dass die Vorschriften, die die Standards vorgeben, flexibilisiert werden, um eher der Realität zu entsprechen. Das ist ein Problem, das schon vor der Pandemie und der zweiten Flüchtlingswelle vorherrschte. Dazu kommt noch der Fachkräftemangel. Das verhindert es bisher, dass die Kapazitäten für Betreuung ausgebaut werden.
Das heißt, Migration ist nicht das Problem, verschärft die Probleme aber?
Die hohen Zahlen machen es zumindest nicht einfacher. Viele Probleme sind eben auch hausgemacht. Wir sind gerade in einer seit acht Jahren andauernden Krise. Dafür müssen wir pragmatische Lösungen vor Ort finden.
Sie sind seit Juni Bürgermeister von Ostelsheim, einer kleinen Ortschaft in Baden-Württemberg. Haben Sie den Eindruck, Sie werden dort anders behandelt, weil Sie syrischer Herkunft sind?
(denkt lange nach) Die Frage war vor allem während des Wahlkampfes relevant. Aber ich würde auch jetzt sagen, dass auf mich anders geblickt wird als auf meinen Vorgänger. Das hat Vor- und Nachteile.
Was sind denn die Vorteile?
Ich als jemand, der von außen kommt, bringe auch eine andere Perspektive aufs Geschehen mit. Als Kriegsvertriebener erlebt man nicht nur schönes in seinem Leben, sondern auch Leid und Elend. Das erweitert den eigenen Horizont weit über die Grenzen der eigenen Kommunen hinaus. Wenn hier ständig gemeckert wird – als Teil der bekannten deutschen Meckerkultur –, dann kann ich sagen: "Ich kenne das anders." Ich finde, etwas leidensfähiger kann man werden. Diesen Blick von außen schätzen viele Bürgerinnen und Bürger. Außerdem bin ich der jüngste Bürgermeister im Landkreis und habe viele politische Vorhaben. Da blickt man mit Begeisterung drauf und sagt, "der Junge ist erst seit acht Jahren hier. Toll, wie er das alles hier anpackt."
Und die Nachteile? Gibt es auch kritische Stimmen?
Das schließt natürlich nicht aus, dass ich politische Gegner habe, die mich kritisieren. Aber ich fand das bisher alles aus demokratischer Sicht fair und es gehört eben auch zu einer lebhaften Debatte dazu.
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Sie werden nun auch als Vorbild für Integration gesehen. Fühlen Sie sich wohl mit der Rolle?
(denkt nach) Ich habe mir die Frage ehrlich gesagt noch nicht gestellt. Vorbild zu sein ist an sich eine coole Sache. Warum nicht?
Sie werden auch mit Cem Özdemir verglichen. Kann er ein Vorbild für Sie sein?
Durchaus. Das sind zwar andere Biografien – er wurde hier geboren, ging auf die deutsche Schule – und wurde anders sozialisiert als ich. Ich kam vor acht Jahren und konnte kein Wort Deutsch. Trotzdem finde ich hochrespektabel, was er geschafft hat in einer Zeit, in der es nicht selbstverständlich war, dass jemand mit ausländischem Hintergrund so eine steile Karriere macht. Das ist natürlich eine Performance, vor der man nur mit großem Respekt stehen kann. Es ist eine Ehre, wenn ich mit ihm verglichen werde.
Die "Süddeutsche Zeitung" hat über Sie geschrieben: "Alshebl wurde anscheinend nicht gewählt, obwohl er in einem Provinznest kandidiert hat – sondern gerade weil."
Genauso ist es. Ich wurde hauptsächlich gewählt, weil ich durch meine Haustürwahlkampf-Kampagne den Menschen vor Ort vermittelt habe, dass es nicht um den eigenen Hintergrund geht oder irgendwelche Vorurteile, die man damit in Verbindung bringt, sondern darum, welche Konzepte man für das Dorf hat. Ich hätte natürlich auch nur Wahlflyer drucken können und die aushändigen. Dann wäre aber der Eindruck geblieben: "Der Syrer versucht, sich irgendwie hübsch zu machen, damit er gewählt wird." Aber wenn Sie sich ein eigenes Bild von ihm machen können, weil er vor Ihrer Tür steht und mit Ihnen redet, dann können Sie sich auch von ihm überzeugen lassen. Auch Menschen, die ihre Vorurteile haben, haben gezeigt, dass sie in der Lage sind, diese Vorurteile beiseite zu schieben, wenn sie jemanden im echten Leben kennenlernen. Das war in einem Dorf möglich, weil ich hier mit fast 70 Prozent der Einwohner sprechen konnte. Das wäre in einer Stadt so nicht gegangen.
Der Migrationsexperte Gerald Knaus hat in einem Interview mit "watson" gesagt: "2015 ist eine Erfolgsgeschichte und wir sollten sie auch so erzählen." Sie sind 2015 nach Deutschland gekommen. Stimmen Sie ihm zu?
Eine Erfolgsgeschichte? Hm. (denkt lange nach) 2015 war eine Katastrophe für viele Menschen in Syrien und der Region. Das muss man auch klar sagen. Aber ja, bei dem, was hierzulande passiert ist, hat sich Deutschland wirklich von der menschlichen Seite gezeigt. Ich war selbst als Betroffener hoch beeindruckt von dem wunderbaren Engagement der Helferinnen und Helfer und der Aufgeschlossenheit der Politik und letztlich der Gesellschaft. Dadurch habe ich viel gewonnen. Von Tag eins bis heute, wo ich jetzt hier sitze. Nichtsdestotrotz ist heute nach acht Jahren eine andere Realität und mit der muss man irgendwie leben können. Gerade als jemand, der eine andere Aufgabe wahrnimmt und Verantwortung vor Ort trägt, ist es ein fast unlösbarer Komplex, Mitgefühl zu haben und trotzdem klare Entscheidungen mitzutragen. So gesehen bin ich wirklich sehr glücklich, dass ich nicht derjenige bin, der die Abkommen auf europäischer Ebene abschließen muss.
Über den Gesprächspartner
- Ryyan Alshebl ist in Syrien geboren worden. 2015 flüchtete er über die Ägäis nach Griechenland und anschließend nach Deutschland, wo er eine Ausbildung zum Verwaltungsfachangestellten absolvierte. Seit 2023 ist er Bürgermeister der Gemeinde Ostelsheim in Baden-Württemberg. Alshebl ist Mitglied bei Bündnis 90 / Die Grünen.
Verwendete Quellen
- Gespräch mit Ryyan Alshebl
- sz.de: Flucht nach vorn
- watson.de: "2015 ist eine Erfolgsgeschichte und wir sollten sie auch so erzählen"
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