Der Linken-Abgeordnete Gregor Gysi feiert seinen 70. Geburtstag. Zeit, Bilanz zu ziehen. Was war sein größter Fehler, was sein prägendstes Erlebnis? Welche Wünsche sind noch offen und vermisst er eigentlich Norbert Lammert?
Im Interview mit unserer Redaktion spricht
Herr Gysi, erst einmal herzlichen Glückwunsch. Wie und mit wem feiern Sie Ihren 70. Geburtstag?
Ich werde heute Abend mit meiner Familie in ein gutes Restaurant gehen. Darauf freue ich mich schon sehr.
Für den darauffolgenden Tag hat die Fraktion eine Veranstaltung auf der Fraktionsebene des Bundestages geplant. Was genau, weiß ich nicht. Und später wird es noch eine private Party geben. Dann ist aber auch gut.
Was war Ihr bisher schönster Tag, Ihr prägendstes Erlebnis, Ihr größter Fehler?
Ich hatte mit meinem Sohn eine sehr glückliche Zeit als alleinerziehender Vater. Auch die Geburt meiner Tochter war ein sehr schönes Erlebnis in meinem Leben.
Mein größter Fehler – obwohl ich ihn nicht bereue – war, im Dezember 1989 den Parteivorsitz der SED zu übernehmen. Ich wusste zwar, dass es schwer werden würde, aber ich wusste nicht, wie schwer.
Inzwischen habe ich mir eine gewisse Akzeptanz erarbeitet. Das hat lange gedauert.
Stünde ich noch einmal vor dieser Entscheidung, würde ich Nein sagen und weiter den Beruf als Anwalt ausüben.
Im Grunde habe ich aber kein Recht, unzufrieden zu sein, Vieles war für mich auch bereichernd: Ich habe Nelson Mandela, Fidel Castro, François Mitterrand und viele andere Persönlichkeiten kennengelernt.
Wie stehen Sie zum Älterwerden? Hat es Sie weiser und nachsichtiger gemacht?
Also erstens war ich schon immer weise und nachsichtig (lacht), und zweitens wird man es – das ist wahr.
Bestimmte Fähigkeiten lassen im Alter nach, andere nehmen zu. Ich bin ja wild entschlossen, das Alter zu genießen. Und ich sage den Alten immer: Redet bloß nicht die ganze Zeit über Krankheiten. Davon wird man nicht gesund.
Man sollte sich auch entscheiden, diesen Lebensabschnitt zu genießen und sich fragen: Was kann ich mir leisten, was ich mir früher nicht leisten konnte? Was will ich noch erleben? Was will ich noch sehen? Was will ich noch machen?
Aber ich bin noch nicht so weit, zu sagen, wann mein Alter beginnt. Es wird allerdings nicht mehr allzu lange dauern.
Was würden Sie denn gerne noch erleben?
Nun, ich bin ja noch im Bundestag und ich bin Präsident der Europäischen Linken. Da beschäftigen mich vor allem die Fragen zur europäischen Integration. Das ist nicht leicht.
Zudem bin ich Autor und arbeite momentan an dem Buch "Marx und wir". Es ist zu seinem 200. Geburtstag geplant.
Außerdem bin ich Moderator und führe Gespräche mit Gästen im Deutschen Theater und in der Distel in Berlin, gelegentlich in meinem Wahlkreistheater oder in Bochum.
Die Menschen erleben mich dort völlig anders, als sie mich vielleicht kennen. Von der Redezeit nehme ich höchstens zehn Prozent in Anspruch. Der Rest gehört meinen Gästen. Die sind dann allesamt erstaunt, wie viel sie bei mir reden können.
Mich interessiert aber auch, was sie zu erzählen haben. Denn dadurch lerne ich Anderes kennen.
Gerade ist Ihre Biografie erschienen: "Ein Leben ist zu wenig". Wer es liest, versteht, was Sie mit dem Titel meinen: Sie waren Synchronsprecher, SED-Vorsitzender, jüngster DDR-Anwalt – heute sind Sie Abgeordneter, Buchautor, Moderator. Gefühlt hatten Sie dutzende Leben. Sie sind jetzt 70 - und kein bisschen müde? Auch nicht von der Politik?
Ganz in den Ruhestand kann ich nicht gehen. Ich werde schon politisch wahrnehmbar bleiben. Außerdem wird man krank, wenn man so ganz in den Ruhestand geht.
Ich unterteile mein Leben in sechs Leben – und die haben mir schon gereicht. Dazu gehören Kindheit und Jugend, Studentenzeit, mein Anwaltsdasein, gefolgt von meinem politischen Leben in der DDR und später von meinem politischen Leben in der Bundesrepublik.
Das wiederum waren zwei Leben. In dem einen lehnte mich die Mehrheit der Bevölkerung, der Journalistinnen und Journalisten und der politischen Klasse ab.
Nachdem ich sehr viel um politische Anerkennung und Akzeptanz gekämpft habe, begann mein sechstes Leben – also eines, in dem ich akzeptiert bin.
Und wenn ich nur die Wahl hätte zwischen dem fünften und dem sechsten Leben, würde ich immer zum sechsten greifen. Und mein siebtes Leben, das ist das Alter, von dem ich noch nicht weiß, wann es beginnen wird.
Was lieben Sie an der Politik, was trieb und treibt Sie an?
Dass ich etwas erreichen will – auch wenn ich es nicht mit einer Rede im Bundestag schaffe.
Sehen Sie, zunächst habe ich mich entschlossen, die Interessen der Ostdeutschen zu vertreten, die kein anderer vertreten wollte.
Doch diese Millionen Menschen, die Partei- und Staatsfunktionäre, die mussten auch einen Weg in die Deutsche Einheit finden. Heute danken mir das sogar bestimmte CDU-Abgeordnete.
Oder nehmen Sie die ostdeutschen Eliten, die nicht vereint wurden. Deren Interessen haben wir auch vertreten.
Dann gab es die Massenarbeitslosigkeit. Wir haben für die Arbeitslosen Anträge geschrieben. Doch irgendwann wäre diese ostdeutsche Partei am Ende gewesen.
Dann standen wir vor der Aufgabe, die PDS mit der WSAG zu vereinigen – wobei
Letztendlich haben wir erreicht, dass es eine akzeptierte linke Partei im Bundestag gibt – was Deutschland europäisch normalisiert hat.
Die Geschichte einer Partei, die längst noch nicht zu Ende erzählt ist …
Nein, natürlich nicht. Aber es gab auch viele Niederlagen.
Ich erinnere mich noch sehr gut an den Finanzskandal von 1990, der die PDS erschütterte oder daran, dass wir 2002 aus dem Bundestag flogen.
Auch jetzt ist wieder die Frage aktuell, was aus der Partei wird. Aber meine Aufgabe besteht momentan darin, mich um die Frage der europäischen Integration zu kümmern.
Welche Wünsche haben Sie?
Ich möchte noch viele Veränderungen erleben. Ich möchte, dass wir den Niedriglohnsektor, dass wir die prekäre Beschäftigung überwinden.
Ich möchte, dass wir in Europa die soziale Gerechtigkeit größer schreiben, und dass wir in Europa nicht zur alten Nationalstaatlichkeit zurückkehren.
Eigentlich würde ich ja gerne noch eine Welt ohne Kriege erleben. Aber daran glaube ich nicht.
Es wäre auch schön, wenn wir den Hungertod überwänden – was ja möglich wäre. Und bevor ich sterbe, möchte ich auf jeden Fall noch erleben, dass es ein souveränes, sicheres Israel und ein souveränes, sicheres Palästina gibt.
Das Thema "Soziale Ungleichheit" überragt den politischen Diskurs – im Grunde ein politischer Elfmeter für die Linke. Wieso schafft es die Partei nicht, ihn auch bei Wahlen zu verwandeln?
Das hat mehrere Gründe: Der Staatssozialismus ist gescheitert. Das wirkt immer noch nach. Diesbezüglich hat die Linke eine gewisse Vorsicht entwickelt.
Dann gibt es sicher Wähler, denen die Person Gysi oder ein anderer Politiker oder andere Politikerin der Linken gut gefällt, nur die Partei gefällt weniger.
Wir müssen hart daran arbeiten, die Akzeptanz beim Wähler zu erhöhen, um letztendlich auch gewählt zu werden. Leichter geht es nicht.
Und da hilft es nicht, allein auf die soziale Frage zu setzen. Die Menschen müssen auch daran glauben, dass es funktioniert.
Sie müssen glauben, dass wir etwas von Finanzen und Wirtschaft verstehen. Sonst haben sie Angst, dass es wieder scheitern und die soziale Frage nicht gelöst werden wird.
Norbert Lammert sagte, dass es die Linken ohne Sie nicht mehr gäbe … Eine steile These, wenn man auch die Rolle Lafontaines und anderer bedenkt. Daraus ließe sich eine andere ableiten: Könnte es einen Schulterschluss mit der SPD nur unter einem Parteivorsitzenden Gysi geben?
Nein. Wenn die Zeit reif ist, werden SPD und Linke zusammen regieren. In der letzten Legislaturperiode gab es eine Mehrheit aus SPD, Grünen und Linken. Die wurde nicht genutzt, weil alle drei Parteien dafür noch nicht reif waren.
Angesichts der aktuellen Situation: Wären Sie jetzt reif dafür?
Ja, nur haben sie keine Mehrheit. Dafür müssen sie etwas tun.
Die Große Koalition ist für die SPD der falsche Weg, weil sie am Ende wieder verlieren wird. Jamaika ist gescheitert, also müsste es eigentlich doch ein Mitte-Links-Bündnis durch Neuwahlen geben.
Doch dafür müsste man gewisse politische Ziele in die Gesellschaft setzen. Nur passiert das noch viel zu wenig. Naja, vielleicht erlebe ich es ja noch.
2015 haben Sie den Fraktionsvorsitz abgegeben und eine sehr emotionale Rede auf dem Parteitag gehalten. Sie sagten, Sie hätten sich zu wichtig genommen. Wie ist das denn heute?
Meine Kinder haben zwei Feststellungen getroffen: Die eine, dass ich nicht mehr Zeit für sie habe. Sie stimmt. Und die andere stimmt auch: Dass ich ihnen ganz anders zuhöre als früher.
Indem ich also Verantwortung abgegeben habe, kann ich meinen Kindern eine andere Aufmerksamkeit widmen.
Es gibt viele Attribute, die verwendet werden, um Sie zu beschreiben: ehrgeizig, schlagfertig, eloquent, eigenwillig, pfiffig, eitel, authentisch ... Welches trifft es Ihrer Ansicht nach am besten?
Na, das trifft alles irgendwie zu.
Authentisch bin ich deshalb, weil ich sage, was ich denke. Und weil ich nicht lüge, weil ich mir Lügen nicht merken kann.
Und wenn man gestelzt quatscht, etwas sagt, was gar nicht der eigenen Überzeugung entspricht, dann glauben die Menschen einem auch nicht. Authentizität ist daher sehr wichtig für mich.
Ehrgeizig bin ich natürlich auch. Ich war als Rechtsanwalt schon ehrgeizig. Und dass ich eitel bin, habe ich nie bestritten. Es ist nur immer die Frage: Beherrscht die Eitelkeit dich oder beherrschst du sie.
Einmal hat sie mich beherrscht, daraus habe ich gelernt.
Sie sind fast dreißig Jahre in der Politik, haben drei Kanzler erlebt. Selbst sind Sie jedoch ohne größeres Amt geblieben. Packt Sie nicht irgendwann doch noch der Ehrgeiz, ein solches anzustreben – etwa als Bundestagspräsident?
Nein, ich bin kein präsidialer Typ. Wenn, dann bin ich ein exekutiver Typ.
Konrad Adenauer wurde erst mit 73 Jahren Bundeskanzler. Da habe ich doch noch alles vor mir … das ist natürlich ein Scherz.
Insofern aber wecken Leute, die im Alter noch etwas geworden sind, Hoffnungen bei denen, die auch langsam alt werden.
Fehlt Ihnen der Fraktionsvorsitz – und fehlt Ihnen Norbert Lammert? Ihre Duelle im Bundestag sind legendär.
Nein, nein, der Fraktionsvorsitz fehlt mir nicht. Ich bin froh, dass ich ihn nicht mehr habe. Dadurch bin ich auch viele Pflichten los.
Lammert? Ein wenig fehlt er mir schon. Er war ein Bundestagspräsident, der wirklich nur Präsident war und nie der verlängerte Arm einer Koalition. Außerdem ist er so ironisch wie ich. Das hat mir gefallen.
Und wir hatten, glaube ich, ein ganz gutes Verhältnis. Im November war er sogar mein Gast im Deutschen Theater.
Was war Ihre bitterste Stunde?
Die parteipolitisch bitterste Stunde war der Finanzskandal 1990. Ich hatte mich so bemüht, die Partei zu reformieren, alles hinzukriegen. Und dann werden einem so die Beine weggehauen, und dann auch noch kurz vor der Wahl.
Mein wiederum politisch bitterstes Erlebnis war, als die AfD in den Bundestag – und dann auch noch in dieser Größe – eingezogen ist.
Helmut Schmidt sagte einmal: "Wir haben rechtsextreme und linksextreme Parteien. Die kommen und gehen auch wieder." Solche Parteien hielt er für "nicht lebensgefährlich, aber unerfreulich". Wie sehen Sie das?
Das weiß ich nicht. Die Zeiten haben sich verändert. Als Schmidt in der Politik war, mag das ja so gewesen sein.
Er hat dies aus seiner politischen Zeit heraus gesehen. Aber wir müssen uns Donald Trump ansehen, die Regierungen in Polen, Ungarn, Finnland, Dänemark, den Niederlanden und Österreich.
Ich glaube auch nicht, dass das hält, aber wenn wir das nicht ernst nehmen, kann es viel länger halten, als wir es uns wünschen.
Was hat sich in den letzten 20 Jahren in der Politik am stärksten verändert?
Dass die Menschen immer mehr das politische Establishment ablehnen, das politische Establishment es aber nicht merkt und so weitermacht – wie etwa die Große Koalition.
Mit dem Ergebnis, dass irgendwann einer von außen gewählt wird, irgendein Trump. Ich will aber keinen Trump. Deshalb werde ich mich auch klar dagegenstellen.
Welche Themen bewegen Sie heute am meisten?
Mich bewegt vor allem der Versuch der Rückkehr zum nationalen Egoismus viel mehr als früher. Denn früher waren das keine ernstzunehmenden Versuche. Aber durch Trump und die anderen ist das heute sehr ernst zu nehmen.
Vielen Dank für das Interview.
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