Vor 30 Jahren wurden mit dem Schengen-Abkommen Grenzkontrollen an den EU-Binnengrenzen abgeschafft. Das deutsche Suderwick und das niederländische Dinxperlo sind inzwischen an vielen Stellen zu einer Einheit zusammengewachsen. Was sagt man dort zu Grenzschließungen? Ein Besuch vor Ort.

Eine Reportage
Dieser Text enthält neben Daten und Fakten auch die Eindrücke und Einschätzungen von Marie Illner. Informieren Sie sich über die verschiedenen journalistischen Textarten.

Vor über drei Jahrzehnten bekam Johannes Hoven einen Anruf. Am Apparat war seine Frau, die gerade die Kinder zum Kindergarten gebracht hatte. Das Problem: Sie hatte eine Abkürzung genommen, vorbei am offiziellen Grenzübergang in die Niederlande – und das hatten die deutschen Zollbehörden gemerkt. Für das Fehlverhalten wollten sie eine Strafgebühr kassieren, doch seine Frau hatte kein Geld dabei.

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Die Aufregung um die morgendliche Abkürzung ist nur zu verstehen, wenn man sich daran erinnert, dass der offizielle Startschuss für die neue Freiheit in Europa, das Schengen-Abkommen, erst am 26. März 1995 fiel, also heute vor 30 Jahren. Familie Hoven weigerte sich damals, die Strafgebühr zu bezahlen.

"Schengen war schließlich schon in Sicht", sagt Hoven heute im Gespräch mit unserer Redaktion und lächelt. Ein paar Mal noch erhöhten die Behörden das Bußgeld, drohten mit einer gerichtlichen Klärung – aber schließlich wurde das Verfahren eingestellt.

Denn mit dem Schengener Abkommen wurden Binnengrenzen abgeschafft, Personenkontrollgrenzen zwischen Belgien, Deutschland, Frankreich, Luxemburg, den Niederlanden, Portugal und Spanien gab es damals fortan nicht mehr – und die Abkürzung zum Kindergarten war ebenfalls kein Problem mehr.

"Dinxperwick": Ein Ort mitten auf der Grenze

Heute ist das nur eine der vielen Anekdoten, die der 75-jährige Hoven erzählt, wenn er sich an die Zeit rund um die Einführung des Schengen-Abkommens in Suderwick erinnert. Der Stadtteil von Bocholt liegt, zusammen mit der niederländischen Ortschaft Dinxperlo nicht nur an, sondern mitten auf der Grenze. Städtebaulich bilden Dinxperlo und Suderwick eine Einheit – am Ortseingang findet man deshalb auch ein Ortsschild mit der Aufschrift "Dinxperwick".

Suderwick
Der Grenzübergang nach Suderwick und Deutschland. © Marie Illner

Wer auf der Dorfstraße fährt, bewegt sich quasi auf der Grenze. Niederländische und deutsche Häuser stehen sich gegenüber. Während die Deutschen am "Hellweg" wohnen, geben die Niederländer ihre Adresse mit "Heelweg" an. Über die Straße führt eine gläserne Brücke, die zu einem Altenheim gehört – in dem sowohl niederländische als auch deutsche Menschen wohnen.

An einer Stelle der Dorfstraße sind zwei gelb-goldene Fußabdrücke auf dem Boden eingelassen. Wenn Hoven hier steht, dann muss er unweigerlich an den Besuch der niederländischen Königin Beatrix im Jahr 1984 denken. Ihr nämlich gehören die Fußabdrücke – und Hoven war dabei. "Wäre sie mit beiden Füßen über die Grenze gegangen, dann wäre es ein Staatsbesuch gewesen, den man vorher hätte anmelden müssen", erinnert er sich zurück..

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Der heute 75-Jährige ist im Heimatverein seiner Stadt aktiv und arbeitet seit Jahrzehnten daran, die Grenze attraktiv und interessant zu machen. "Die Grenze ist in Dinxperwick gleichzeitig sichtbar und unsichtbar", sagt er. Die alten Schlagbäume der Zollbehörde – heute ein Supermarkt – fallen beim Stadtbesuch sofort ins Auge. In Bäckereien wird man von Personal bedient, das niederländisch, deutsch oder Bocholter Platt spricht.

Ortsschild Dinxperwick mit Hoven und Diersen
Johannes Hoven (l.) und Freek Diersen am Ortsschild "Dinxperwick". © Joop van Reeken

Grenzüberschreitend sind derweil jede Menge Ehen und Freundschaften. Hoven ist seit Jahrzehnten mit dem Niederländer Freek Diersen befreundet. "Für uns hat diese Grenzlage ohne echte Grenze vor allem Vorteile", sagen die beiden.

Für die einen bedeutet sie nämlich: deutsches Brot und Schnaps in greifbarer Nähe, für die anderen niederländischen Backfisch, gute Fahrräder und Lakritz. Aber es sind nicht nur die kulinarischen Vorzüge, sonntags einkaufen und Autowaschen ist für Menschen in Suderwick kein Problem. Sie wechseln dafür einfach die Straßenseite.

Sondergenehmigung der Uefa

Heute sind die Bewohnerinnen und Bewohner von "Dinxperwick" ziemlich stolz auf ihren Ort. "Hier fängt Europa an", sagen sie. Doch das war nicht immer so. Hoven kann sich an Zeiten erinnern, da wurden Deutsche in den Niederlanden nur zähneknirschend bedient und auf beiden Seiten herrschten Vorurteile. Jahrzehntelang waren die "Dinxperwicker" durch meterhohen Stacheldraht oder Grenzzäune getrennt.

Grenze zwischen Dinxperlo und Suderwick
Mit Stacheldraht gesicherte Grenze zwischen Dinxperlo und Suderwick. © Archiv Heimatverein Suderwick

"Da musste man erstmal zusammenwachsen, aber mit Schengen sind auch Hemmungen gefallen", sagt Diersen. Und Hoven meint: "Suderwick wäre ohne die Lage an der Grenze ein kleines Dorf, wir haben nur 2.000 Einwohner. Aber so sind wir Bocholts Tor zu Europa." Wird eine Sportart in dem Bocholter Stadtteil nicht angeboten, spielt man Volleyball eben in den Niederlanden.

"Mit Sondergenehmigung der Uefa haben wir sogar in einer Saison eine gemeinsame Fußballmannschaft zusammengestellt, als es nicht ausreichend Spieler gab", erinnert sich Hoven.

"Wir sind ein europäischer Versuchsgarten", ist er sich sicher. Denn so viele Vorteile die Grenzlage auch bringt – sie sorgt auch immer wieder für Herausforderungen. Für viele davon wurden bereits Lösungen gefunden: Wie kann man etwa bei der Trinkwasserversorgung, Straßenbeleuchtung, im Rettungswesen und bei der Polizei zusammenarbeiten?

Deutsche und niederländische Polizei: Gemeinsam auf Streife

Eine Antwort: Seit 1999 existiert eine gemeinsame Polizeiwache. "Politie" und "Polizei" steht daran. Die beiden Polizeibeamten machen gemeinsam Streifendienst beidseits der Grenze. So ist rechtssicheres Handeln immer gewährleistet – je nach Staatsgebiet schreitet der eine oder andere ein. "Täglich haben wir mit der Herausforderung zu tun, wer zuständig ist", sagt der Polizeibeamte Jürgen Schütte. Steht das Auto bei einem Verkehrsunfall zum Beispiel auf der deutschen oder niederländischen Seite?

"Teilweise unterscheidet sich die Rechtslage nämlich", sagt Schütte. Während man in den Niederlanden beispielsweise Eigentum an gestohlener Ware erwerben kann – also ein geklautes Rad gutgläubig kaufen dürfte –, ist das in Deutschland nicht möglich.

"Wir trainieren zusammen und dürfen in gewissem Rahmen auch auf dem Staatsgebiet der anderen eingreifen", sagt Schütte. Die Streifenbeamten sprechen jeweils die Sprache des anderen fließend. Die täglichen Gespräche aber finden oft in einem Sprachenmix statt, in dem hälftig beide Sprachen gesprochen werden.

Die Diskussionen um Grenzschließungen nimmt man auch in Suderwick und Dinxperlo wahr. Hier machen sie den Bürgerinnen und Bürgern aber eher Angst. Bei Hoven und Diersen kommen dann die Erinnerungen an die Zeiten hoch, als sie als kleine Jungen die Grenze überqueren mussten. "Vor den Zollbeamten habe ich immer wahnsinnig Respekt gehabt", sagt Diersen.

Grenzschließungen heute?

Regelmäßig wurden auch Kinder kontrolliert, denn Schmuggel von Zigaretten oder Kaffee war üblich. "Wir haben das Nachbarschaftshilfe genannt", sagt Hoven und lacht. Bei jedem Besuch in den Niederlanden machte er sich die Taschen mit Freimengen an Butter und Tee voll. Auch die Erinnerungen an die Maul- und Klauenseuche oder an Corona kommen dann wieder hoch, als die Straßen zeitweise mit Containern abgesperrt wurden. Grenzschließungen heute? "Nicht umsetzbar", meint Hoven.

Auch das Altenheim hat einen Grenzübergang. © Marie Illner

Auch Verena Winter von der "Bürgerinitiative Dinxperwick" sagt: "Wir blicken mit großer Sorge auf die Debatten um Grenzschließungen. Grenzen schließen heutzutage? Was für ein gefährlicher Unsinn!" Auch sie ist sich sicher, dass sich Grenzschließungen in Dinxperwick nicht ausführen ließen.

So sei beispielsweise ein Großteil der deutschen Häuser am Hellweg nur vom niederländischen Heelweg aus zu erreichen. Auf niederländischer Seite erinnert Bürgermeister Anton Stapelkamp: "Wir leben hier fast ohne Grenzen und das wollen wir behalten. Eine offene Grenze ist Teil unserer gemeinsamen Identität."