Boris Johnson hat die Brexit-Befürworter mit falschen Zahlen und einer extrem populistischen Kampagne zum Sieg geführt. Jetzt scheint es, als hadere er selbst mit dem Erfolg. Womöglich war der Sieg gar nicht Teil seiner politischen Strategie.

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Ein Gewinner sieht anders aus. Als Boris Johnson am Tag nach dem Votum für den Brexit sein Haus verlässt, schlägt ihm die geballte Wut vieler Londoner entgegen. Unter Polizeischutz wird Johnson zu seinem Auto geführt und muss sich dabei Beschimpfungen wie "Drecksack" oder "Schäm dich, Boris" anhören.

Glücklich oder gar triumphierend sieht er nicht aus. Im Gegenteil: Die Schultern hängen, der Mann scheint im Augenblick seines größten Triumphs seltsam abwesend. In der Tat spricht einiges dafür, dass auch Johnson von dem Ausgang der Wahl überrascht wurde - und das Ergebnis ganz und gar nicht in seinem Sinne ist.

Boris Johnson Brexit-Begeisterung ist jung

Tatsächlich hat Johnson seine Begeisterung für das Projekt Brexit erst vor wenigen Monaten entdeckt. Nach einem Bericht von "Spiegel-Online" sagte der damalige Bürgermeister von London noch vor einem Jahr in einem Interview, dass es viele Gründe gegen den Brexit gebe. Leidenschaftslos habe der Mann bei dem Thema EU-Austritt gewirkt, erinnern sich die Reporter heute. Nichts habe damals daraufhin gedeutet, dass Johnson einmal zu dem Mann werden könnte, der mit seinem Engagement Großbritannien in eine der tiefsten Krisen der letzten Jahrzehnte stürzen sollte.

Seine Haltung in der Brexit-Frage kündigte Johnson an einem Sonntag im Februar 2016 an. Mit gesenktem Kopf trat der Mann vor die Kameras und murmelte etwas von schwerem Herzen - und dass er nichts gegen die Regierung Cameron unternehmen wollte. Aber die Situation und die Verpflichtung gegenüber dem Volk ließen ihm keine Wahl. Parteifreunde soll er erst kurz vorher per SMS informiert haben. Johnsons Übertritt ins Brexit-Lager schien wie eine einsame Entscheidung des Politikers. Und einsam wirkt er auch jetzt, seit der Brexit politische Realität geworden ist. Was hat den Mann in diese Rolle getrieben?

Sieht sich Johnson als zweiter Churchill?

Um Johnson zu verstehen, ist es wichtig, sich dessen Verständnis von Politik zu vergegenwärtigen. Der Mann ist ein glühender Verehrer von Winston Churchill, jenem Staatsmann, der den Nazis einen Sonderfrieden verweigerte und ankündigte, lieber sterben zu wollen, als Hitler die Hand zu schütteln. So begeistert ist Johnson von Churchill, dass er sogar eine eigene Biografie über ihn verfasst hat. Eine Charakterstudie ist das, in der sich Johnson "beinah als zweiter Churchill" anbietet, hieß es 2014 in einer Rezension in der "Welt".

Die Ähnlichkeit im Charakter der beiden Politiker seien laut dem Bericht auffallend: "Der Spieler, die Risikofreude, die Ablehnung jeder Political Correctness, der Humor, die Lust an der Sprache".

Richtig ist, dass Johnson wohl vor allem der Zocker-Charakter und die Risikofreude an Churchill begeistern, weniger dessen Prinzipientreue. "Was Johnson vor allem auch an ihm bewunderte, war die Tatsache, dass Churchill ein Spieler war. Einer, der so weit ging, politische Parteien zu wechseln, wenn er dadurch mehr Macht gewinnen konnte", erinnern sich "Spiegel"-Reporter an ein Gespräch.

Und in der Tat ergibt Johnsons plötzliches Engagement für den Brexit und seine sichtbare Erschütterung am Tag danach erst dann Sinn, wenn man dieses Engagement als einen Spielzug begreift. Einen Einsatz in einem Spiel, das nur einem Ziel dient, der Beschleunigung der Karriere des Spielers Johnson.

Alle liebten den Londoner Bürgermeister

Welchen Vorteil sein Brexit-Engagement ihm persönlich eingebracht hat, wird deutlich sichtbar, wenn man auf die Zeit davor zurückblickt.

Als Bürgermeister von London hat es der Mann mit dem charismatischem Gesicht und dem strubbeligen Haar zu erstaunlicher Popularität gebracht. Immer wieder wurde er zum beliebtesten Politiker Großbritanniens gekürt, auch wenn - oder vielleicht gerade weil - er keinen Einsatz scheute, um seine Zustimmung in der Bevölkerung zu steigern.

"Die blonde Gefahr", titelte das Magazin der "Süddeutschen Zeitung" bereits 2012. "Boris Johnson ist ein Phänomen: Der Londoner Bürgermeister legt einen peinlichen Auftritt nach dem anderen hin – und trotzdem (oder gerade deshalb) lieben ihn alle", hieß es damals. Der Bürgermeister schnitt gerne Grimassen, kleckerte mit Speiseeis, stolperte und pöbelte - und ging mit unmöglichen Klamotten auf seine morgendliche Jogging-Runde.

In seinem erkennbaren Bestreben, ein Gegenbild zum Establishment zu verkörpern, erlangte Johnson beeindruckende Zustimmungswerte, vor allem in einfacheren Schichten. Und dass, obwohl er genau wie sein Studien-Kamerad David Cameron die besten Schulen und Internate des Landes besucht hatte.

Irgendwann im Verlauf des Jahres 2015 muss Johnson erkannt haben, dass mit seiner Position als skurrile politische Witzfigur das vorläufige Ende der Fahnenstange erreicht war. Seinen Entschluss, 2016 nicht für eine Wiederwahl zu kandidieren, haben die wenigsten Beobachter als einen tatsächlichen Rückzug verstanden. Im Gegenteil: Viele glaubten schon damals, dass Johnson nach Höherem strebte. ´

War die Brexit-Kampagne für Johnson nur ein politisches Spielzeug?

Innerhalb des Parlamentsbetriebs, das war absehbar, würde es mit Johnsons Image nicht viele Aufstiegsmöglichkeiten geben. Die Brexit-Kampagne, so sehen es einige Beobachter, bot sich für den Populisten als eine außerparlamentarische Bewegung an, in der er mit seinen politischen Fähigkeiten brillieren konnte. Die Kampagne war Johnsons "neuestes volkstümliches Spielzeug", schreibt "Spiegel-Online".

Er habe sich der Bewegung bemächtigt wie ein Investor einer fremden Firma. "Nur dass es keine feindliche Übernahme war, sondern eine freundliche". Erst mit Johnsons Engagement begannen die Zustimmungswerte der Euro-Skeptiker zu steigen - und mit ihnen auch die landesweite Popularität ihres neuen glühenden Vertreters.

Zweifelhaft ist, ob Johnson für das Erlangen seines politischen Ziels, Premierminister zu werden, die Brexit-Abstimmung überhaupt gewinnen wollte. Einige politische Beobachter glauben, dass dem begnadeten Populisten eine knappe Niederlage viel besser in die Strategie gepasst hätte als ein knapper Sieg.

In diesem Fall hätte sich Johnson als höchst populärer Euro-Skeptiker und Nachfolger David Camerons in Position gebracht - ohne irgendwelche Konsequenzen tragen zu müssen. Cameron wiederum hatte ohnehin angekündigt, spätestens bei der Parlamentswahl 2020 abtreten zu wollen. Johnson hätte auf dem Höhepunkt seiner Popularität gute Chancen für eine Übernahme gehabt.

War Johnson selbst geschockt über den Wahlausgang?

Dass es jetzt anders gekommen ist, habe ihn ebenso überrascht wie alle anderen, heißt es in verschiedenen Medienberichten. Als er den Rücktritt Camerons im Fernsehen sah, habe er im Schock geflüstert: "Oh God. Poor Dave. Jesus", schreiben verschieden britische Zeitungen - ohne eine Quelle zu nennen. Unabhängig ob diese Geschichte stimmt, dürfte klar sein: Ein hochintelligenter Mann wie Johnson ist sich mit großer Wahrscheinlichkeit der enorm negativen Auswirkungen des Brexits bewusst. Und Johnson muss befürchten, für die Konsequenzen seines Spiels verantwortlich gemacht zu werden.

Dazu passt, dass er seit dem Referendum eine Ruhe und Gelassenheit predigt, die sein mit falschen Zahlen gespickter, extrem populistischer Brexit-Wahlkampf vermissen lassen hat. "No time for haste", betont Johnson jetzt öffentlich. "Keine Zeit für Hast, das klingt wie der Wunsch, durch Verhandlungen den tiefen Fall doch noch abwenden zu wollen", vermutet "Spiegel-Online". Denn mit den unberechenbaren Folgen des von ihm propagierten Brexit könnte sich der begnadete Populist Boris Johnson am Ende verzockt haben.

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