Neue Reisepässe, andere Auto-Kennzeichnen, die Rückkehr der Roaming-Gebühren: Auch die "kleinen" Begleiterscheinungen des EU-Austritts summieren sich: Vor allem bei einem No-Deal-Brexit kommen Kosten auf die rund 66 Millionen Briten zu.
Geht es um Folgen und Kosten des Brexit, geht es meist um große Beträge. Etwa darum, was der Austritt der Briten aus der EU für die Wirtschaft bedeutet, für Konzerne und andere Unternehmen. Seltener beschäftigen sich Medien und Experten mit britischen Haushalten, mit den rund 66 Millionen Menschen – und damit, welche konkreten Veränderungen der EU-Austritt für sie bringt.
Ihr Reisepass etwa wird in Zukunft blau sein statt rot wie bisher – und ohne die Aufschrift "European Union" auf dem Umschlag. Ein neuer Pass ist vor allem dann dringend nötig, wenn es zu keinem Abkommen kommt und Briten ins Ausland reisen wollen. Er kostet nach Angaben der Regierung zwischen umgerechnet gut 87 und knapp 100 Euro.
Paul J.J. Welfens, Professor für Volkswirtschaftslehre, Makroökonomische Theorie und Politik an der Bergischen Universität Wuppertal, fallen im Gespräch mit unserer Redaktion eine ganze Menge weiterer Beispiele ein, die das Reisen betreffen. Kommt es zu einem No-Deal-Brexit, kann etwa gebührenfreies Roaming, das erst seit Sommer 2017 EU-weit gilt, "nicht mehr garantiert werden", schreibt die Regierung auf der Serviceseite "gov.uk". Davon wären nicht nur Urlaubsreisende betroffen, sondern beispielsweise auch Mitarbeiter britischer Unternehmen, die sich geschäftlich in der EU aufhalten.
Zusätzliche Krankenversicherung nötig
Der Brexit betrifft aber auch die Krankenversicherungen: Falls es einen Deal gibt, sind Briten nach Angaben der Regierung weiterhin in der EU versichert, sofern sie eine europäische Krankenversicherungskarte (EHIC) haben. Wer in Deutschland gesetzlich versichert ist, hat diesen EU-weiten Schutz auf der Rückseite seiner Versichertenkarte aufgedruckt. Falls es jedoch zu keiner Einigung kommt, brauchen Briten in Zukunft eine extra Auslandsversicherung, nicht nur, wenn sie auf andere Kontinente fliegen, sondern auch, wenn sie etwa nach Spanien oder Frankreich reisen. Auf ein Problem dabei macht die Regierung aufmerksam: Das EHIC-System decke bereits bestehende Erkrankungen ab. Bei vielen Reiseversicherungen hingegen sei das nicht der Fall. Ein erheblicher Nachteil für Millionen britischer Reisender, betont Welfens.
Auch, wer sein Haustier mit auf Reisen in ein EU-Land nehmen will, muss – je nach Einigung – in Zukunft behördlichen und finanziellen Mehraufwand betreiben: Gesundheitszertifikate müssen eingeholt, unter Umständen frühzeitig Bluttests für Impfnachweise gemacht werden: "Um sicherzustellen, dass Ihr Haustier in jedem Szenario nach dem EU-Ausstieg aus Großbritannien in die EU reisen kann, sollten Sie sich mindestens vier Monate vor Reiseantritt an Ihren Tierarzt wenden", empfiehlt die Regierung.
Online-Shopping wird teurer
Experte Welfens erinnert aber nicht nur ans Reisen, sondern auch an das alltägliche Leben in Großbritannien: "Die Briten bestellen eine ganze Menge mehr als wir Deutschen im Internet", sagt er. Die bisherige Bagatellgrenze für die Erstattung der Mehrwertsteuer liegt seinen Angaben nach bei 150 Euro. "Die würde bei einem Brexit ohne Abkommen nicht mehr gelten." Das bedeute eine erhebliche Verteuerung für Haushalte, die online einkaufen und dabei Produkte aus dem EU-Ausland ordern.
Zudem ist im Dezember eine neue Regelung gegen Geoblocking beim Online-Shopping in der EU in Kraft getreten: Händlern ist damit untersagt, ausländische Käufer von Angeboten auszuschließen oder sie auf Webseiten mit höheren Preisen umzuleiten. Eine Verbesserung für Verbraucher, von der die Briten möglicherweise bald nicht mehr profitieren werden.
Nachteile in Rechtsstreitigkeiten
Auch was Verträge mit europäischen Unternehmen, beispielsweise Versicherungen oder Immobilienanbietern, angeht, sieht Welfens Briten in Zukunft im Nachteil. "Gerade im Klagefall konnten Streitigkeiten bislang auch über britische Gerichte laufen." Demnächst müssen sie ihr Recht möglicherweise in dem EU-Land erstreiten, in dem die andere Partei sitzt.
Das Straßenbild wird sich auf der Insel ebenfalls ändern: Die EU-Kennzeichen werden von den Straßen verbannt – oder zumindest mit GB-Aufklebern ergänzt: Fahrzeugbesitzer müssen das Euro-Kennzeichen durch ein Nummernschild ohne EU-Flagge ersetzen. Alternativ können sie die Buchstaben EU mit einem GB-Aufkleber überdecken. Die Regierung empfiehlt außerdem, einen großen GB-Aufkleber für Reisen ins EU-Ausland am Heck des Fahrzeugs anzubringen. Briten müssen bei einem Ausstieg ohne Abkommen in Zukunft wohl auch für gut sechs Euro einen internationalen Führerschein beantragen, um in der EU fahren zu dürfen.
Was die einzelnen Punkte das Land – beziehungsweise ganz konkret die Bevölkerung – kosten werden, ist schwer zu beziffern. Aber Professor Welfens geht davon aus, dass es für einen britischen Haushalt im Schnitt durchaus bis zu einem Prozent des Realeinkommens ausmachen wird. Möglicherweise sei die Summe all dieser "kleinen" Begleiterscheinungen "der meist unterschätzte Faktor des Brexit in Großbritannien", glaubt der Experte. "Es ist eine große Aufgabe für die Politiker, die Bevölkerung auf all diese Änderungen hinzuweisen." Diese allein auf Webseiten aufzulisten, das genüge nicht.
Es sind Themen, die sich in der großen politischen Debatte kaum oder gar nicht widerspiegeln. Die Wirtschaft redet schließlich über ganz andere Summen. "Große Firmen haben eine Lobby – aber weil Millionen Konsumenten so viele sind, sind sie schlecht organisiert", sagt der Wirtschaftsfachmann. "Doch gerade weil sie so viele sind, reden wir in der Summe auch hier von erheblichen Beträgen."
Verwendete Quellen:
- Gespärch mit Paul J.J. Welfens, Professor für Volkswirtschaftslehre, Makroökonomische Theorie und Politik an der Bergischen Universität Wuppertal
- gov.uk
- Motoring Research: Why you might need new number plates after Brexit
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