Der Ausgang der Volksabstimmung am 23. Juni zum sogenannten "Brexit", dem möglichen Austritt der Briten aus der Europäischen Union, gilt als völlig offen. Kurz vor dem Referendum liegen Befürworter und Gegner nah beieinander. Ein Brexit dürfte schwerwiegende politische und wirtschaftliche Folgen haben. Der Politikberater Prof. Werner Weidenfeld prognostiziert erhebliche Konsequenzen.
Großbritannien ist gespalten. Das Vereinigte Königreich steht am 23. Juni vor einer richtungsweisenden Entscheidung, die unangenehme Folgen haben könnte. Brexit oder Verbleib in der EU?
Brexit und die wirtschaftlichen Folgen
Der britische Premierminister David Cameron wirbt für den Verbleib Großbritanniens in der EU. Cameron warnte die Briten nachdrücklich "vor einer falschen Entscheidung", die nicht mehr rückgängig zu machen sei.
Gleicher Meinung ist Politologe und EU-Experte Prof. Werner Weidenfeld: "Die britische Wirtschaft wird erheblichen Schaden nehmen", sagt er in einem Gespräch mit unserer Redaktion.
Sollte der Brexit kommen, kämen ökonomische Schäden wie der Einbruch des Arbeitsmarkts, Firmeninsolvenzen, Hindernisse des Handels und der Dienstleistungen sowie Währungsturbulenzen auf das Vereinigte Königreich zu.
"Außerdem bedeutet der Austritt aus der EU einen politischen Gewichtsverlust für Großbritannien", betont der Politikberater.
Brexit und die politischen Folgen
Die Abstimmung habe auch eine Signalwirkung in Bezug auf den Zusammenhalt in der Europäischen Union: "Dazu wird die EU eine Strategie-Debatte beginnen. Sie wird eine Vergewisserung ihres eigenen Zukunftsbildes betreiben müssen", erklärt Weidenfeld. Durch die aktuelle Lage werde Europa dazu gezwungen, sein Strategie- und Deutungsdefizit aufzuarbeiten.
Laut Weidenfeld werde es deshalb einen öffentlichen Diskurs über die notwendigen Zukunftsschritte der Integration geben. "Dabei wird man die künftigen Mega-Themen wie die politische Union der Wirtschafts- und Währungsunion sowie die Zukunftsarchitektur europäischer Sicherheit erörtern", so der EU-Experte.
Einen Zusammenbruch der EU durch einen möglichen Brexit sieht Weidenfeld unterdessen nicht. Ebenso wenig wie einen möglichen Domino-Effekt.
"Nein, beides wird nicht passieren. Auch die britische Wirtschaft wird nicht zusammenbrechen, aber sehr darunter leiden müssen. Großbritannien wird in keiner Weise von einem Ausstieg aus der EU profitieren", widerlegt der Politologe anderslautende Thesen.
Brexit und die geopolitischen Folgen
Für Schottland, Wales und Nordirland hat der mögliche Brexit im Vergleich zu England eine andere Gewichtung. Denn diese Landesteile profitieren noch stärker von der finanziellen Unterstützung der EU als die Engländer.
Doch auch das Nachbarland Irland sieht seine wiedergewonnene Stärke nach der Krise auf der Kippe stehen. Die guten wirtschaftlichen Beziehungen zu Großbritannien könnten durch den Brexit in die Brüche gehen.
Die rund 5,4 Millionen Schotten könnten bei einem möglichen Brexit ein erneutes Unabhängigkeitsreferendum fordern. Im Falle einer positiven Abstimmung hätte das Land dann unabhängig die Möglichkeit, eine erneute Aufnahme in die EU zu beantragen.
Bereits 2014 hatte es eine Abstimmung über die Unabhängigkeit Schottlands gegeben. Damals war sie noch von einer Mehrheit der Bevölkerung abgelehnt worden.
Cameron hatte den Schotten im Anschluss versprochen, dass es Zeit sei, "sich gemeinsam für eine bessere Zukunft zu engagieren". Dieses Versprechen dürfte die schottische Bevölkerung bei einem Austritt aus der EU als gebrochen betrachten.
Brexit und die sicherheitspolitischen Folgen
Auch das Thema Sicherheit spielt beim Brexit eine Rolle. Laut dem britischen Europol-Direktor Rob Wainwright könnte es Großbritannien nach dem Brexit schwerer haben, seine Bürger vor Terrorismus und organisiertem Verbrechen zu schützen.
Das Vereinigte Königreich sei danach nicht mehr vollwertiges Mitglied der europäischen Polizeibehörde und verliere Zugang zu wichtigen Datenbanken der EU. Der Brexit könnte für Großbritannien also sowohl aus wirtschaftlicher als auch aus geopolitischer und sicherheitspolitischer Sicht schwer zu verkraften sein.
Die letzte große TV-Debatte vor Tausenden im Londoner Wembley-Stadion und Millionen Zuschauern bei der BBC hat gezeigt: Das Interesse der Briten an ihrer Zukunft mit oder ohne die EU ist gewaltig.
Nach Informationen der "Tagesschau" haben sich 46,5 Millionen Menschen für das morgige Referendum angemeldet – so viele wie nie zuvor für eine Abstimmung in Großbritannien.
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