Blicken die Briten im Brexit-Wirrwar eigentlich selbst noch durch? Was erwartet uns als Nächstes? Wohin steuert Boris Johnson das Vereinigte Königreich? Und was verbindet ihn mit US-Präsident Donald Trump? Die Unterhausabgeordnete Wera Hobhouse klärt auf.
Wera Hobhouse ist gebürtige Deutsche und hat seit 2017 einen Sitz im House of Commons für die Liberal Democrats inne. Im Interview mit unserer Redaktion erklärt sie die Hintergründe für
Boris Johnson ist neuer Premierminister und hat gleich mal das Parlament in die Zwangspause geschickt. Überkommt Sie da nicht Lust, wieder nach Deutschland zurückzukehren, Mrs. Hobhouse?
Wera Hobhouse: Hier sind meine Heimat, meine Arbeit, meine Familie, ich bin britische Staatsbürgerin und ich kämpfe hier weiter für das, was ich für richtig halte. Der Premierminister hat schon viele Fehler gemacht und alle seine Abstimmungen verloren. Wir Liberalen warten auf eine Neuwahl nach dem 31. Oktober, da werde ich antreten, um die britische Demokratie zu retten (lacht).
Können Sie kurz erklären, was genau vor sich gegangen ist Anfang letzter Woche?
Normalerweise haben die Parlamentarier von Mitte September bis Anfang Oktober drei Wochen Pause, weil in dieser Zeit die Parteitage stattfinden. Nicht normal ist, dass die Woche vor dieser Pause vom Premierminister eingekürzt und die Woche danach uns komplett weggenommen wurde. Und das ausgerechnet zu einem Zeitpunkt, zu dem die Krise um einen Deal mit der EU und die Abstimmung darüber auf dem Höhepunkt steht. Das ist politisch inakzeptabel.
Was war aus Ihrer Sicht Johnsons Motiv für dieses Verhalten?
Der Premierminister sieht im Parlament eine Bremse, die ihn daran hindert, seinen No-Deal-Brexit durchzuziehen. Ich nehme ihm nicht ab, dass er noch einen Deal mit der EU aushandeln will. Er will die Sache zuspitzen, um die Schuld entweder der EU in die Schuhe zu schieben, weil sie nicht bereit ist, über einen Deal zu verhandeln, oder eben dem Parlament, weil es keine Zeit mehr gibt, einen möglichen Deal zu genau zu untersuchen. Johnson versucht, die parlamentarische Kontrolle zu umgehen und seinen Plan als Autokrat durchzudrücken.
Wie lautet denn Johnsons Plan?
Er hat eine sehr begrenzte Vorstellung, wie unsere Beziehung mit der EU aussehen soll. Sein Ziel ist ganz klar ein No-Deal-Brexit. Deswegen wurde er von den Mitgliedern der konservativen Partei zum Vorsitzenden gewählt. Johnson versucht vorzugaukeln, das Parlament stünde der Demokratie im Weg. Deshalb will er das Parlament ausschalten und glaubt, das sei in der Bevölkerung akzeptabel.
Und ist es das?
Ehrlich gesagt ist die Bevölkerung in Großbritannien – vielleicht wäre das in Deutschland auch so – sehr unaufgeklärt, wie unsere Demokratie funktioniert.
Die Reise Johnsons zum EU-Gipfel Mitte Oktober ist also nur eine Farce?
Ja. Johnson argumentiert zweigleisig: Einerseits sagt er, wir werden die EU am 31. Oktober verlassen. Auf der anderen Seite behauptet er, ein Deal sei möglich. Es gibt aber, wie man von der EU hört, keine konkreten Fortschritte. Wann soll dieser Deal bitteschön ausgehandelt werden? Es gab zweieinhalb Jahre lang komplizierte Verhandlungen – und jetzt will Johnson plötzlich innerhalb von 24 Stunden etwas Neues auf den Tisch zaubern, es unterzeichnet und abgestimmt haben? Hier in England sagt man: "It doesn’t add up", es ergibt also keinen Sinn.
Und warum kommt er damit durch?
Boris Johnson und letztlich alle Populisten bauen auf die Unwissenheit der Bevölkerung, und man darf das vielleicht nicht so laut sagen, aber manche Leute wissen eben nicht genau, wie die Prozesse ablaufen. Sie denken nicht 24 Stunden am Tag über Politik nach, sondern schauen sich nur die Überschriften in den Medien an. Die meisten Briten sind Brexit-müde und wollen die Sache endlich erledigt haben. Doch sie sehen nicht, welche Schwierigkeiten Großbritannien haben wird, wenn wir die EU ohne Deal verlassen. Sie denken, dann wäre das Thema vorbei, doch das Gegenteil ist der Fall.
Aber das Parlament hat doch ein Gesetz gegen einen No-Deal-Brexit verabschiedet.
Johnson lässt sich nicht darauf festlegen, dass er sich ans Gesetz halten wird. Wenn man einen Premierminister hat, der sich an nichts hält, weder Integrität, noch Ehrlichkeit, der sich wie Donald Trump verhält, wie ein Zerstörer von allem, was man in der Politik kennt, dann ist das beunruhigend.
Welche Auswirkungen befürchten Sie?
Wenn sich in der Bevölkerung die Haltung festsetzt, dass man selbst auch gegen das Gesetz verstoßen könne, weil sich der Premierminister nicht daran hält, dann befinden wir uns in einer echten politischen Krise und nicht mehr weit von der Anarchie entfernt.
Wird er zurücktreten, wenn der Supreme Court entscheidet, dass die Zwangspause gegen die Verfassung verstoßen hat?
Nein, auf keinen Fall. Populisten wie er oder auch Trump sind aus Eitelkeit in ihrer Position. Sie glauben an nichts. Von Johnson habe ich jedenfalls nicht den Eindruck, dass er irgendwelche politischen Überzeugungen hat - außer, dass er an der Spitze stehen möchte. Das ist sein Ziel, und dafür sticht er jedem das Messer in den Rücken, wahrscheinlich auch irgendwann der britischen Bevölkerung, wenn er dafür Premierminister bleiben kann.
Welche Chancen sehen Sie, Johnson noch zu stoppen?
Die einzige Möglichkeit ist ein Misstrauensvotum im Parlament. Er hat bekanntlich keine Mehrheit mehr, weil er verrückterweise 21 seiner eigenen Kollegen in die Wüste geschickt hat.
Wie konnte es passieren, dass jemand wie Johnson, der mehrfach Fakten verdreht und falsche Versprechungen gemacht hat, in das Amt des Premierministers kommt?
Weil die konservative Partei von den Rechtsextremen übernommen worden ist. Das müssen Sie sich so vorstellen, als hätte die AfD die CDU übernommen. Viele ehemalige Mitglieder der UKIP-Partei sind in die Tory-Partei eingetreten, die Mehrheit hat sich dann für Johnson als neuen Parteichef entschieden. Es gibt inzwischen nur noch rund 160.000 Tory-Mitglieder. Meine Schwiegermutter ist über 80 Jahre alt und war ihr ganzes Leben lang in der konservativen Partei. Jetzt hat sie ihre Mitgliedschaft aufgegeben. Weil sie wie viele andere erkannt hat: Das ist nicht mehr meine Tory-Partei.
Trotzdem gibt es offenbar nach wie vor viele Leute, die ihn gut finden. Warum?
Sie müssen sich nur anschauen, was in Amerika passiert: Donald Trump richtet sich immer nur an ein bestimmtes Publikum. Und dieses bestimmte Publikum findet eben klasse, was er sagt. Johnsons Anziehungskraft wirkt bei denen, die sich einen starken Führer wünschen. Aber wo kommen wir denn da hin? Wenn wir einen starken Führer haben, werden alle Wahlen abgeschafft, eine Opposition gibt es dann nicht mehr. Wenn man den Rechtsstaat erst einmal abgeschafft hat, sitzen wir alle - entschuldigen Sie den Ausdruck - in der Scheiße.
Wie sehr ähnelt Johnson in seinem Verhalten US-Präsident Donald Trump?
Beide benutzen das gleiche Textbuch: das des autokratischen Führers. Bolsonaro, Putin, Erdogan - alle machen das Gleiche. Wir müssen hochsensibel sein für diesen Unsinn.
Welches Problem haben die Briten eigentlich mit Europa? Hat Brüssel wirklich das Image eines bürokratischen Monsters?
Das geht zurück auf jahrelanges Unterminieren der EU. Es wurden nie die positiven Seiten betont, nie darauf hingewiesen, dass zum Beispiel viele unserer Infrastruktur-Projekte von Europa finanziert werden, dass ein großer Teil unserer Universitäten von europäischer Projektfinanzierung abhängig ist. Im Gegenteil: Alles, was hier schief läuft, wird der EU in die Schuhe geschoben, oft ohne irgendwelche Belege. Großbritannien sieht die EU als interessantes Projekt, um Handel zu treiben. Nicht als Friedensprojekt. Es ging in der EU-Debatte immer nur darum: Gibt es einen ökonomischen Vorteil für uns oder nicht? Die Ideale und Werte der EU fallen in Großbritannien nicht auf fruchtbaren Boden.
Wagen Sie doch mal einen Blick in die Zukunft: Wenn wir uns in einem Jahr wieder sprechen, wird Großbritannien dann aus der EU ausgetreten und Boris Johnson noch Premier sein?
Ich hoffe, dass wir dann noch in der EU sind und auch bleiben und die Debatte um den Brexit endlich abgeschlossen ist. Das Ganze ist ein solcher Rückbau für unsere Wirtschaft. Die klarste Entscheidung, um diesen blöden Brexit aus dem Weg zu räumen, ist, in der EU zu bleiben. Das ist auch unsere Linie, die wir auf dem Parteitag beschlossen haben.
Aber die Bevölkerung hat sich für den Brexit entschieden.
Deswegen hoffe ich, dass es zu einem zweiten Referendum kommt, mit einer klaren Entscheidung für den Brexit-Deal oder dagegen. Wenn die Mehrheit dagegen ist, müssen wir besser und sorgfältiger eine Diskussion mit der Bevölkerung über die Vorteile einer EU-Mitgliedschaft führen. Nur dann können wir die Wunde heilen, dass dieses Land nach wie vor extrem gespalten ist.
Was wird in den kommenden Monaten passieren?
Das hängt zunächst mal davon ab, ob es eine Verlängerung der Verhandlungen gibt. Ich bin normalerweise ein Fan von Emmanuel Macron, aber mit dem Austrittsdatum 31. Oktober haben der französische Präsident und die EU Großbritannien eine echte Falle gestellt. Das war nicht hilfreich.
Warum?
Weil wir länger für diese Debatte brauchen. Die Engländer kämpfen nicht nur um ihre Mitgliedschaft in der EU, sondern auch um ihr eigenes politisches Selbstverständnis. Eine solche Debatte kann man nicht in sechs Monaten führen, das dauert länger.
Dennoch: Wie geht es weiter?
Ich erwarte eine riesige Unruhe im Land. Ich rechne mit Neuwahlen im Herbst – die Tory-Regierung verfügt ja über keine Mehrheit mehr. Und dass es danach innerhalb von zwölf Monaten nochmal Wahlen geben wird, weil die kommende Abstimmung keine stabile Regierungsmehrheit ergeben wird. Für diese zweite Wahl wollen wir als Liberale wirkliche Fortschritte machen und unsere Positionen und unsere Parteichefin Jo Swinson etablieren. Das hoffe ich zumindest.
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