Die Grünen wollen es allen recht machen, doch in der Migrationspolitik gelingt ihnen das nicht. An der Basis grummelt es, andere Parteien setzen sich mehr und mehr ab, Wahlen gehen verloren. Die Reaktion der Parteiführung wirkt eher wie: Augen zu und durch.
Anfang des Jahres waren die Grünen noch ganz zufrieden mit sich. Die Zustimmungswerte zur Regierungskoalition waren zwar schon schlecht, der Hass auf die Partei in Teilen der Gesellschaft massiv. Doch in Wahlumfragen hielt sich die Partei wacker. Die Unzufriedenheit mit der Ampel bekamen eher SPD und FDP zu spüren.
Inzwischen stecken auch die Grünen in der Krise. Die Europawahl war eine Niederlage, in Sachsen hat sich die Partei nur mit Mühe im Landtag gehalten, in Thüringen ist sie mit dem schlechtesten Ergebnis seit 25 Jahren rausgeflogen. Auch in Brandenburg könnte das am 22. September passieren.
Dann hätten die Grünen in den vergangenen zwei Jahren die Regierungsbeteiligung in fünf Bundesländern verloren. Und 2025 bei der Bundestagswahl? Da drohen sie ohne Koalitionspartner dazustehen.
In der Partei könnte also vorsichtige Panik ausbrechen. Doch vor wie hinter den Kulissen wirkt die Reaktion auf die Krise eher wie: Augen zu und durch. Wie schwierig die Lage ist, weiß man in der Parteiführung sehr wohl. Aber personelle Konsequenzen nach den Wahlschlappen? Sind aktuell nicht geplant. Schuld an Wahlschlappen und Umfragetief? Sind vor allem die anderen: russische Desinformationskampagnen, Angriffe der Opposition.
Aus Sicht von manchen Mitgliedern hat das durchaus Züge von Realitätsverweigerung. Auch die Basis wird unruhig.
Migration: Kurswechsel oder Prinzipientreue?
Ein Beispiel ist die Migrationspolitik. Die Grünen sind hier zu Getriebenen geworden. Sie haben im vergangenen Jahr einem Dutzend Gesetzesverschärfungen zugestimmt. Die Ampelkoalition hat die Bezahlkarte für Flüchtlinge und ein Gesetz für schnellere Abschiebungen beschlossen, hat Grenzkontrollen eingeführt, einer deutlich strengeren Asylpolitik auf EU-Ebene zugestimmt.
Die Brüsseler EU-Reform müsse jetzt in Deutschland schnell in nationales Recht umgesetzt werden, sagt Vizekanzler Robert Habeck am Mittwoch bei einer Klausurtagung der Bundestagsfraktion. Dort sprechen sich die Grünen auch für die schnelle Abschiebung von straffällig gewordenen Ausländern und ein härteres Auftreten des Staates für die innere Sicherheit aus.
Man sei beim Thema Asyl und Migration an die eigene Schmerzgrenze gegangen, sagt Außenministerin Annalena Baerbock. Trotzdem werden die Grünen von CDU/CSU und Teilen der Medien als Bremser dargestellt. Sie haben einen Kurswechsel vollzogen, werden aber ständig gefragt, warum sie nicht noch schneller in die neue Richtung laufen.
Diese Fragen kommen zum Teil aber auch aus der eigenen Partei. Das hat auch damit zu tun, dass führende Grüne noch keinen Weg gefunden haben, ihre Migrationspolitik klar zu vermitteln.
"Wir wundern uns, dass die Parteiführung das Thema Migration nicht längst anders angeht", sagt Rainer Lagemann, Sprecher der Vert Realos. Die Gruppe ist ein Zusammenschluss von Mitgliedern auf Kommunal- und Landesebene, die die Grünen als liberale und wertkonservative Partei in der politischen Mitte verortet sehen. "Viele Kommunen sind nach wie vor am Limit, die Realität muss man zur Kenntnis nehmen", sagt Lagemann. "Es muss rüberkommen, dass die Partei das Problem sieht und ernst nimmt. Bis jetzt sind die Botschaften da nicht eindeutig."
Die Migrationspolitik beschäftigt auch die Wählergruppe, auf die sich die Grünen früher verlassen konnten: die Jüngeren. Bei der Europawahl bezeichneten 55 Prozent der 16- bis 29-Jährigen Migration und Asyl als wichtigste Themen. Von den Grünen erhoffen sich hier offenbar viele keine Antworten. Besonders bei den Jüngeren hat die Partei zuletzt massiv an Unterstützung verloren.
Das Thema treibt auch Katharina Stolla um, die Co-Vorsitzende der Grünen Jugend. Sie hält aber nichts von einem grundlegenden Wechsel in der Migrationspolitik. Dadurch würde man rechte Parteien nur noch bestärken, sagt sie unserer Redaktion. "Wenn man Rechten hinterläuft, bremst man sie nicht – man spornt sie nur an, noch schneller zu laufen."
Aus Stollas Sicht müssen sich die Grünen mehr um Alltagsprobleme kümmern. "Viele Menschen fühlen sich von der Politik im Stich gelassen, weil die Dinge des Alltags nicht mehr funktionieren: Der Bus kommt nicht mehr, das Krankenhaus, das Schwimmbad oder der Jugendclub werden geschlossen."
Müssen die Grünen ihre offene Migrationspolitik überdenken? Oder ist es gerade in dieser aufgeheizten Situation wichtig, bei den Prinzipien zu bleiben? Die Antwort ist in der Partei hoch umstritten. Führende Grüne haben sie noch nicht gefunden – auch weil sie niemanden verprellen wollen.
Das Ziel lautet, sowohl die Kernklientel als auch die bürgerliche Mitte anzusprechen. Man will es beiden Seiten recht machen. Zur Zeit wirkt es eher, als verprelle man beide.
Die Grünen wollen ins Gespräch kommen – aber wie?
"Wir müssen mehr auf die Leute zugehen, in den Dialog kommen – und uns nicht gegenseitig in der Gesinnung bestärken", sagt Rainer Lagemann. In diesem Punkt dürfte sich der Basis-Realo mit der Parteivorsitzenden Ricarda Lang einig sein: Auch sie will eine "Politik des Gehörtwerdens" etablieren.
Allerdings sind die Grünen in einen Teufelskreis geraten. Führungspersonen wie "normale" Mitglieder sind Bedrohungen, Hass und zum Teil körperlicher Gewalt ausgesetzt. Einer Statistik des Bundeskriminalamts zufolge, über die der "Spiegel" (Bezahlinhalt) berichtete, waren Politiker der Grünen 2023 von allen Parteien am häufigsten von politisch motivierter Kriminalität betroffen.
Das hat Folgen. Die Wahlkämpfe in Sachsen und Thüringen fanden eher zurückgezogen statt, weil große öffentliche Auftritte ein Sicherheitsrisiko bergen. Wer Angst vor Beschimpfungen oder gar Schlägen hat, stellt sich nicht mehr mit einem Grünen-Sonnenschirm in die Fußgängerzone. Auf Menschen zuzugehen und das Gespräch zu suchen, wird dann schwierig.
Zögern bei der Kanzlerkandidatur
Die Grünen haben auch das Problem, dass sie von ihren Gegnern maßlos überschätzt werden: An allem sind sie angeblich Schuld – obwohl sie im Bund nur einer von drei Koalitionspartnern sind.
Zu Überschätzung neigen aber auch die Grünen selbst. Zurzeit liegen sie in Umfragen bei 10 bis 11 Prozent. Trotzdem hat Robert Habeck Interesse an einer Kanzlerkandidatur bekundet. Eine endgültige Entscheidung darüber will die Partei noch nicht treffen. Wahrscheinlich merkt man, dass der Zeitpunkt, einen Kanzlerkandidaten auszurufen, gerade eher unpassend wäre.
Absetzbewegungen der anderen Parteien
Selbst ein grüner Vizekanzler wäre nach der nächsten Bundestagswahl eher eine Überraschung – zumindest aus heutiger Sicht. CDU und CSU setzen sich so stark von den Grünen ab, dass sie eine schwarz-grüne Bundesregierung kaum glaubwürdig vermitteln könnten. Und SPD-Politiker lassen hinter den Kulissen wenig Gelegenheiten aus, die Regierungsfähigkeit der grünen Koalitionspartner in Zweifel zu ziehen.
Eine Bündnispartei wollen die Grünen eigentlich sein. Doch zumindest in der Politik stehen sie aktuell eher isoliert da.
Verwendete Quellen
- Gespräche mit Katharina Stolla und Rainer Lagemann
- Pressekonferenz bei der Klausur des Grünen-Fraktionsvorstands
- Spiegel.de: Vertrauliche Kriminalstatistik: Grünenpolitiker bekommen am meisten Hass ab
"So arbeitet die Redaktion" informiert Sie, wann und worüber wir berichten, wie wir mit Fehlern umgehen und woher unsere Inhalte stammen. Bei der Berichterstattung halten wir uns an die Richtlinien der Journalism Trust Initiative.