• Erst nach langem Ringen können sich die Grünen einigen, welche Ministerinnen und Minister sie in die Bundesregierung schicken.
  • Zum Start der Ampel-Koalition gibt die Partei ein zerstrittenes Bild ab.
  • Der Politikwissenschaftler und frühere Grünen-Politiker Hubert Kleinert glaubt, dass die Konflikte in der Regierung noch zunehmen werden: "Die Risiken sind gewaltig, und die Grünen stehen unter großem Erfolgsdruck."
Eine Analyse

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2021 hätte das Jahr der Grünen werden können. Mitten in der Pandemie klingt das zynisch – aber die politische Ausgangslage war für die Partei zu Jahresbeginn positiv. Rund 120.000 Mitglieder haben Bündnis 90/Die Grünen – so viele wie nie zuvor. Der Klimaschutz, ein grünes Kern- und Kompetenzthema, bewegt breite Teile der Gesellschaft. Die beiden Vorsitzenden Annalena Baerbock und Robert Habeck wurden lange nicht nur in der eigenen Partei von einer Welle der Sympathie getragen. Sie bescherten den Grünen eine Geschlossenheit, die auch politische Rivalen neidisch machte.

Stattdessen scheint 2021 als ein Jahr der Höhen und Tiefen in die Parteigeschichte einzugehen. Mit deutlich mehr Tiefen als Höhen.

Pannen überschatteten Wahlkampf

Am 19. April dieses Jahres rief Robert Habeck seine Co-Parteichefin Annalena Baerbock zur Kanzlerkandidatin aus. Die Partei stand damals in Umfragen bei 27 Prozent – eine grüne Kanzlerschaft erschien nicht mehr als Hirngespinst. Doch bekanntlich folgte auf diese Höhe ein langer Absturz.

Baerbock musste einräumen, Passagen in ihrem Buch ohne Quellennennung von anderen Autorinnen und Autoren übernommen zu haben. Außerdem hatte sie Nebeneinkünfte zu spät dem Bundestag gemeldet und ihren Lebenslauf blumiger klingen lassen als die Wirklichkeit. Die Umfragewerte rauschten in die Tiefe – und die Geschlossenheit der Partei bekam erste Risse. Wäre Robert Habeck doch der bessere Kanzlerkandidat gewesen?

Die Kanzlerkandidatin erhielt innerparteilich viel Respekt dafür, dass sie sich nach außen hin nicht beirren ließ und unverzagt durchs Land tourte. Das Ergebnis der Bundestagswahl am 26. Oktober fiel dann aber zwiespältig aus. 14,8 Prozent waren immerhin das beste Resultat der Parteigeschichte.

Doch vor nicht allzu langer Zeit hatten die Grünen noch geträumt, die SPD auf lange Sicht als stärkste Kraft der linken Mitte abzulösen. Davon sind sie so weit entfernt wie von einer grünen Kanzlerschaft. Und auch nach der Wahl fand die Partei nicht in den Tritt.

Steht genug Grün im Koalitionsvertrag?

Geräuschlos und professionell zogen die Grünen gemeinsam mit SPD und FDP die Bildung der ersten Ampel-Koalition auf Bundesebene durch. Doch während sich die Sozialdemokraten über ihren voraussichtlich nächsten Bundeskanzler Olaf Scholz freute und die FDP feierte, dass sie Steuererhöhungen verhinderte, wirkten die Grünen verzagt und ratlos.

Im Koalitionsvertrag haben sie in der Gesellschafts-, Asyl-, Landwirtschafts- und Europapolitik deutliche Akzente gesetzt. "Im Großen und Ganzen können die Grünen mit dem Koalitionsvertrag ganz zufrieden sein", sagt Hubert Kleinert im Gespräch mit unserer Redaktion. Der Professor an der Hessischen Hochschule für Polizei und Verwaltung gehörte 1983 selbst zu den ersten Bundestagsabgeordneten der Grünen.

"Jeder weiß, dass sich in Koalitionen nicht das ganze Wahlprogramm umsetzen lässt", sagt Kleinert. "Ich bin fast überrascht, wie viel sie bei so heiklen Themen wie Asyl und Migration durchgesetzt haben."

Kritik von "Fridays for Future" und der Grünen Jugend

Doch den Eindruck, dass die Grünen vor allem beim Klimaschutz viele Zugeständnisse machen mussten, konnte die Parteiführung nicht wegreden. Der zentrale Kritikpunkt zum Beispiel der Klimaschutzbewegung Fridays for Future: Der Vertrag legt fest, dass der Kohleausstieg nur "idealerweise" auf das Jahr 2030 vorgezogen werden soll.

Die Grüne Jugend bemängelt nicht nur zu wenig Fortschritte im Kampf gegen die Erderwärmung. Der Koalitionsvertrag werde auch in der Sozialpolitik den Aufgaben nicht gerecht, twitterte die Vorsitzende Sarah-Lee Heinrich.

Junge Mitglieder haben bei den Grünen wie auch bei der SPD in den vergangenen Jahren an Gewicht gewonnen. Und die Basis hat ein Vetorecht: Sie muss dem Koalitionsvertrag in einem Mitgliederentscheid zustimmen, damit die Grünen wirklich regieren können.

Streit über Besetzung des Kabinetts

In dieser Woche folgte der vorerst letzte Akt der Pannenserie. In den Koalitionsverhandlungen konnten die Grünen fünf Ministerien rausverhandeln: Auswärtiges, Wirtschaft und Klima, Umwelt, Landwirtschaft und Familie. Doch offenbar machte sich die Partei zu spät Gedanken, wie sie diese Häuser besetzt. Möglicherweise war sie sogar schlecht vorbereitet auf den sehnlich ersehnten Schritt an die Macht.

Am Mittwoch musste die Parteiführung die Verkündung der Ministerliste mehrmals verschieben, weil hinter den Kulissen offenbar ein Machtkampf zwischen Realos und Parteilinken tobte. Am späten Abend erfolgte die Verkündung dann über eine trockene Mail des Bundesgeschäftsführers Michael Kellner. Baerbock und Habeck erhalten wie erwartet die Ministerien für Auswärtiges und Wirtschaft. Cem Özdemir wird Landwirtschaftsminister und die Partelinken Steffi Lemke und Anne Spiegel erhalten die Ressorts Umwelt und Familie.

Einige profilierte Politiker - aber "nur" fünf Ministerien

Personell haben die Grünen ein Luxusproblem: In den langen Jahren der Opposition auf Bundesebene und der Regierungsbeteiligung in einigen Ländern haben sich viele Personen warmgelaufen, die genügend Prominenz, Fachkunde und Erfahrung für Ministerämter mitbringen. Doch selbst mit fünf Bundesministerien gibt es zu wenig zu verteilen, wenn die Partei den Geschlechter- und Flügelproporz einhalten will. Sie muss genügend Frauen und Parteilinke ins Kabinett schicken.

Hinzu kommt eine besondere Herausforderung, die sich die Grünen selbst geschaffen haben. Von SPD und FDP hat bisher niemand verlangt, auf jeden Fall eine Person mit Migrationsgeschichte ins Kabinett zu schicken. Das wird als Aufgabe der Grünen erachtet, weil die Partei sich die Diversität wie keine andere Partei auf die Fahnen geschrieben hat.

Deswegen führte für die Grünen kein Weg daran vorbei, Cem Özdemir einen Ministerposten zu verschaffen – auch wenn sie damit so verdienten Leuten wie Anton Hofreiter und Katrin Göring-Eckardt den nächsten Karriereschritt versagen musste und die Parteiführung jetzt wie ein zerstrittener Haufen dasteht. Kurz vor Ende dieses Jahres wirken die Grünen uneins wie lange nicht mehr.

"Nicht erstaunlich, dass es Reibereien gegeben hat"

Politikwissenschaftler Hubert Kleinert hat eine etwas andere Sicht auf die Dinge: Er hat einst die heftigen Flügelkämpfe in den 80er und 90er Jahren aus der Nähe miterlebt. "Ich finde es überhaupt nicht erstaunlich, dass es jetzt Reibereien gegeben hat", sagt er.

"Mit dem Aufschwung in der Opposition und der großen Popularität des Führungsduos war es vergleichsweise leicht, die Parteiflügel zu befrieden. Jetzt wird eben sichtbar, dass sich nicht alles super inszenieren lässt und dass es Brüche gibt. Das ist ein relativ normaler Vorgang, wenn es nicht genug Posten zu vergeben gibt."

Konflikte könnten in der Regierung noch zunehmen

Aus Sicht von Kleinert sind die Geschehnisse von dieser Woche eher ein Vorbote der Konflikte, die in den nächsten Jahren noch auf die Grünen zukommen. Denn nach 16 Jahren in der Opposition muss die Partei jetzt beweisen, dass sie Dinge wirklich besser machen kann als die anderen.

"Regieren ist immer schwierig, weil der Enttäuschungsfaktor groß ist", sagt Kleinert. "Die Risiken sind gewaltig, und die Grünen stehen unter großem Erfolgsdruck, weil sie das Klimathema so angeschärft haben."

Die Grünen müssen also den Erwartungen gerecht werden, die sie selbst in die Höhe geschraubt haben. Die nächste Bundesregierung sei die letzte, die noch etwas gegen die Klimakrise unternehmen könne, hat Annalena Baerbock im Wahlkampf immer wieder betont. Hubert Kleinert glaubt, dass die Grünen über das Wort "idealerweise" vor dem Kohleausstieg 2030 noch ganz glücklich sein könnten. Denn dieses Ziel zu erreichen, wird schwierig werden – und ab jetzt ist es Sache der Grünen.

Über den Experten: Hubert Kleinert ist Professor für Politische Wissenschaft, Staats- und Verfassungsrecht und Soziologie an der Hessischen Hochschule für Polizei und Verwaltung. Er war früher selbst Grünen-Politiker. 1983 gehörte er zur ersten Bundestagsfraktion der Partei, war später unter anderem Referent im hessischen Umweltministerium und Landesvorsitzender.
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