Seit fast einem Jahrzehnt ist Tarek Al-Wazir stellvertretender Ministerpräsident in Hessen. Auch nach der Landtagswahl am 8. Oktober will der Grünen-Politiker an der Macht bleiben. Im Interview mit unserer Redaktion sagt er: Sein Wunsch sei es, dass sich CDU und SPD um seine Partei als Koalitionspartner streiten.
Trotz eines Wahlkampftermins nach dem anderen wirkt Al-Wazir an diesem Nachmittag entspannt und locker. Dabei geht es für den Grünen-Spitzenpolitiker um viel - gilt er doch als der ewige Herausforderer um das Amt des hessischen Ministerpräsidenten. Doch die Menschen schätzen seit zehn Jahren seine ruhige und sachorientierte Arbeit als Wirtschaftsminister und stellvertretenden Ministerpräsidenten: In Umfragen belegt er den ersten Platz und ist damit beliebter als der amtierende Ministerpräsident Boris Rhein (CDU).
Trotzdem liegt bei den Parteien die CDU vor den Grünen. Beide regierten bislang in einer Koalition harmonisch zusammen. Inwieweit nun das eigene Profil des pragmatischen Al-Wazirs für die Wählerinnen und Wähler erkennbar wird, bleibt abzuwarten. Der Grüne-Spitzenkandidat wirbt mit Argumenten und Ergebnissen um die Stimmen, wie er im Interview mit unserer Redaktion verrät.
Herr Al-Wazir, werden Sie der nächste hessische Ministerpräsident?
Tarek Al-Wazir: Das entscheiden die Hessinnen und Hessen am 8. Oktober. Das ist ja das Schöne an einer Demokratie: Nur die Bürgerinnen und Bürger entscheiden, wer regiert und wer nicht.
Was ist Ihr Plan für Hessen?
Ich will Hessen noch stärker und fit für die Zukunft machen. Mit mindestens 20.000 zusätzlichen Kita-Plätzen, damit alle Kinder gut betreut sind. Im Ballungsraum Rhein-Main brauchen wir 60.000 zusätzliche Wohnungen. Und ich will wie nie zuvor in unsere Zukunft investieren mit einem sechs Milliarden Euro großen Klima- und Transformationsfonds, insbesondere für kleine und mittlere Unternehmen.
Das können Sie aber nicht alleine umsetzen.
Stimmt. Und deshalb werde ich mit allen demokratischen Parteien über diese inhaltlichen Punkte reden. Was mir persönlich ganz wichtig ist: Die Koalition muss verlässlich und stabil über eine ganze Legislaturperiode sein. Man kann nur miteinander regieren und nicht gegeneinander. Das habe ich immer so gehalten. Und das wissen die Menschen in Hessen.
Ist die CDU wieder Ihr Wunsch-Koalitionspartner?
Mein Wunsch wäre, dass Boris Rhein und
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Tarek Al-Wazir: "Die AfD will uns isolieren und abkoppeln"
Wenn es schlecht für Sie läuft, könnten Sie auch mit Ihrer Partei nicht nur auf Platz zwei, sondern auch hinter der AfD auf Platz vier landen.
Wir müssen in den nächsten Wochen verstärkt Menschen motivieren, wählen zu gehen und demokratisch zu wählen. Die AfD will alles, was ich nicht will. Sie will uns isolieren und abkoppeln, was für die Exportnation Deutschland und gerade das internationale Land Hessen eine Katastrophe wäre. Sie will Frauen zurück an den Herd. Sie will in eine Welt zurück, die die überwältigende Mehrheit der Hessinnen und Hessen genau nicht will.
Die AfD wirft den anderen Parteien vor, sich zu wenig zu unterscheiden. Was unterscheidet Sie vom bisherigen Ministerpräsidenten Boris Rhein?
Jeder hat seine Schwerpunkte, und in bestimmten Bereichen ticken wir einfach unterschiedlich. Wenn die hessische CDU Verbrennungsmotoren verbessern will oder auf ihre Wahlplakate schreibt "Autos verbieten verboten", dann sind das Fake News. Das kannten wir bislang nur von der AfD. Niemand will Autos verbieten. Im Gegenteil - ich will, dass die deutsche Autoindustrie eine Zukunft hat. Und die hat sie eben nicht durch bessere Verbrennungsmotoren. VW hat gerade bei den Erstzulassungen den Spitzenplatz in China an BYD (chinesischer E-Automobilkonzern, Anm. d. Red.) verloren. Nicht, weil sie schlechte Verbrennungsmotoren bauen, sondern weil sie nicht genügend konkurrenzfähige Elektroautos liefern können. Das sind unterschiedliche Herangehensweisen. Die CDU trauert der Vergangenheit hinterher. Ich will eher die Mobilität der Zukunft bauen.
Nach neusten Umfragen sind die Leute mit Ihrer Arbeit in Hessen zufrieden. Was machen Sie besser als die Grünen in der Ampelkoalition?
Das hat gar nicht so sehr mit Bessersein zu tun. Wir regieren in Hessen seit zehn Jahren verlässlich mit der CDU und haben dieses Land wirklich vorangebracht. Die Menschen kennen mich und – das freut mich sehr – sie schätzen auch meine Arbeit. Dass wir mit Lösungen raus gehen und nicht mit Problemen. Leider denken einzelne Parteien der Regierungskoalition im Bund, dass es ihnen nützt, wenn sie sich von der Gesamtregierung abgrenzen.
Sie meinen die FDP?
Ja, ich will nicht schlecht über Koalitionspartner reden. Aber manche haben sich da in einer Oppositionsrolle eingerichtet, obwohl sie eigentlich in der Regierung sind. Und das nützt ihnen überhaupt nichts, wenn man die Umfragen betrachtet. Wie gesagt: Eine Regierung kann am Ende nur erfolgreich sein, wenn sie miteinander regiert und nicht gegeneinander. So habe ich immer gearbeitet, so werde ich auch weiterarbeiten.
Verschwindet dadurch aber nicht auch der Markenkern der Grünen?
Nein. Wir werden ja an den Ergebnissen gemessen – und unser Profil ist sehr scharf. Zum Beispiel kommt in Hessen über die Hälfte der Stromerzeugung aus Erneuerbaren Energien. Andere Länder wären gerne so weit. Wir sind Vorreiter der Verkehrswende. Wir haben die Flatrate-Tickets erfunden, die die Blaupause für das Deutschlandticket waren. Wir haben sehr erfolgreiche Sozialpolitik gemacht, indem wir dafür gesorgt haben, dass Schuldnerberatungsstellen, Frauenhäuser wieder sehr gut finanziert werden. Die vorherige CDU-Alleinregierung hatte in der Vergangenheit die Zuschüsse komplett gestrichen.
Umweltbewegungen wie Fridays for Future oder die "Letzte Generation" kritisieren, dass mit den Grünen in der Regierung viel zu wenig für den Klimaschutz getan wird.
Ich kann die Sorge junger Leute vor dem Klimawandel gut verstehen. Aber wir werden in der Sache nicht mehr, sondern weniger erreichen, wenn wir die Menschen auf dem Weg der Veränderung verlieren. Wenn der Eindruck entsteht, dass man Unerfüllbares fordert, ist das für den Klimaschutz sogar kontraproduktiv, weil sich die Leute abwenden. Wir müssen es deshalb Schritt für Schritt in die Realität umsetzen. Wenn die Leute dann sehen, dass es gut wird, dann kommen wir im Ergebnis schneller ans Ziel.
Ihr Bundesland will Genehmigungen beschleunigen und Bürokratie abbauen. Wie wollen Sie Langzeitprojekte in der Infrastruktur umsetzen? Sie hatten schon ein Jahrzehnt Zeit dafür.
Ja, wir sind insgesamt zu langsam in Deutschland. Bei allem, was mit Planen, Genehmigen und Bauen zu tun hat. Diese Verfahren sind einfach viel zu kompliziert. Wir haben mehr Planerinnen und Ingenieure eingestellt und die Gerichte besser ausgestattet, damit über Klagen schneller entschieden wird. Aber das reicht noch nicht. Wir müssen unsere Regeln dringend so verändern, dass wir uns nicht vor lauter Perfektionismus selber fesseln. Und deswegen diskutieren wir gerade mit dem Bund über Planungsbeschleunigung, damit wir nicht alles doppelt und dreifach prüfen müssen.
Wie schnell ist Hessen beim Windkraftausbau?
Wer Windräder bauen will, braucht Flächen, auf denen das möglich ist. Hessen ist das waldreichste Land, deshalb ist das bei uns nicht ganz so trivial. Und deshalb haben wir schon sehr frühzeitig Windvorranggebiete ausgewiesen und knapp zwei Prozent unserer Landesfläche für den Windkraftausbau reserviert. Das gibt es außer in Hessen nur in Schleswig-Holstein. Deshalb bin ich guter Dinge, dass es jetzt sehr schnell vorangehen wird.
Warum wurden dann im letzten Jahr nur 13 Windräder in ganz Hessen gebaut?
Die große Koalition, die ja noch bis vor zwei Jahren im Bund regiert hat, hat Erneuerbare Energien mehr oder weniger bewusst abgewürgt. 2016 und 2017 sind in Hessen jeweils 100 neue Windräder ans Netz gegangen. Dann kam der Stopp durch die Gesetzesänderungen auf Bundesebene. Wir kämpfen uns jetzt aus diesem Loch heraus. Aktuell sind in Hessen 400 Windräder beantragt, teilweise schon genehmigt oder sogar bereits im Bau. Es geht wieder voran.
"Wir dürfen den ländlichen Raum nicht abhängen"
Ein weiteres großes Thema in Ihrem Wahlprogramm ist eine nachhaltige Verkehrswende. Da planen die Grünen stündliche Bus- und Bahnanbindungen für das ganze Bundesland. Warum?
Wir dürfen den ländlichen Raum nicht abhängen. Natürlich wird gerade auf dem Land das Auto eine wichtige Rolle behalten. Aber wir wollen mit klugen Modellen, wie beispielsweise Anrufsammeltaxis oder andere On-Demand-Verkehren, das Umsteigen auf Bus und Bahn so einfach wie möglich machen. Mein Ziel ist für jedes: Ich kann jede Stunde hin und weg. Das muss sichergestellt sein.
Sie wollen auch eine Offensive für E-Autos.
Im letzten Jahr haben wir 30 Prozent mehr öffentliche Ladesäulen in Hessen errichtet. Und auch dieses Jahr geht das in dem Tempo weiter. Und das ist auch richtig so. Wir müssen den Autoverkehr dekarbonisieren, also wegbringen von Benzin und Diesel. Das ist gut fürs Klima, gut für die Luft in den Städten und auch der Verkehrslärm sinkt.
Finden Sie Elektroautos wirklich nachhaltig?
Die Batterietechnik wird ja ständig besser. Gleichzeitig entwickelt sich ein Gebrauchtwagenmarkt für Elektroautos. Das ist auch wichtig, damit sie günstiger zu kaufen sind. Am Ende ihrer Lebensdauer wird es für Batterien das sogenannte Second Life geben. Etwa als Speicher in Häusern, bei denen auf dem Dach eine Photovoltaikanlage ist. Beim Recycling forschen unsere Fraunhofer-Institute daran, wie man am Schluss diese Rohstoffe wieder zurück in den Kreislauf bringt.
"Wir müssen wieder Ordnung in die Migration bringen"
Beim Thema Flucht und Zuwanderung klagen immer mehr Kommunen, dass ihre Belastungsgrenze überschritten ist. Gilt das auch für Hessen?
Ja, klar. Auch unsere Kitas, Schulen und Kommunen kommen an ihre Grenzen - und teilweise darüber hinaus. Das ist eine große Herausforderung. Auch deshalb haben wir in Hessen beispielsweise gerade 4.000 zusätzliche Stellen für Lehrerinnen und Lehrer geschaffen. Aber insgesamt ist klar: Wir müssen in Europa wieder Ordnung in die Migration bringen. Das ist derzeit leider nicht der Fall. Und der Schlüssel dafür sind geordnete Verfahren an der Außengrenze, über die jetzt richtigerweise in Europa erfolgversprechend verhandelt wird und eine Einigung so nahe ist wie nie.
Zur Person
- Der Grünen-Politiker Tarek Al-Wazir wurde 1971 in Offenbach geboren: als Sohn einer Deutschen und eines Jemeniten. Nach Abitur und Zivildienst studierte er in Frankfurt Politikwissenschaften. 1995 wurde er erstmals in den Hessischen Landtag gewählt. Seit 2014 ist er in dem Bundesland Minister für Wirtschaft, Energie, Verkehr und Wohnen und stellvertretender Ministerpräsident.
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