- Ricarda Lang will Bundesvorsitzende der Grünen werden.
- Annalena Baerbock und Robert Habeck müssen ihre Chefposten aufgeben, weil sie in die Bundesregierung gewechselt sind.
- Im Interview mit unserer Redaktion spricht Ricarda Lang über die Notwendigkeit von Kompromissen, ihre Meinung zur Impfpflicht – und sie erklärt, warum sie keine Politik wie im Wilden Westen betreiben will.
Frau
Ricarda Lang: Sowas macht man nicht aus einer spontanen Laune heraus. Wir müssen jetzt unsere Versprechen aus dem Koalitionsvertrag erfüllen: 2030 aus der Kohle aussteigen, eine Einwanderungsgesellschaft gestalten, Millionen von Kindern aus der Armut holen. Gleichzeitig müssen wir an unserem grünen Profil arbeiten, noch mehr Menschen von unserer Partei überzeugen. Ich habe lange überlegt, in welcher Rolle ich dazu beitragen kann, und habe entschieden, dass es der Parteivorsitz ist. Es wäre eine Ehre, wenn ich das machen dürfte.
Die Herausforderung ist gewaltig. Die Grünen haben im Wahlkampf hohe Erwartungen geweckt. Jetzt müssen sie in der Ampel-Koalition mit SPD und FDP einen Kompromiss nach dem anderen schließen.
Kompromisse gehören zum Regieren. Das haben wir gemerkt, als wir den Koalitionsvertrag ausgehandelt haben. Für mich wird Ehrlichkeit entscheidend sein. Wir müssen klar aufzeigen, was wir erreicht haben. Wir müssen aber auch sagen, wo wir uns nicht durchsetzen konnten. Das erwartet die Basis von uns, genauso wie die Menschen im Land.
Sie sagen selbst, dass Kompromisse zum Regieren dazugehören. Bei den Grünen gibt es aber viele junge Mitglieder mit Verbindungen zu Klimaschutzbewegungen oder Geflüchtetenorganisationen, die ihre Forderungen recht kompromisslos vertreten. Passt das zusammen?
Sehr weitgehende Forderungen sind ja kein Selbstzweck. Dort, wo sie sich aus der Realität ableiten, etwa bei der existenziellen Klimakrise oder explodierenden Mieten, sind sie realistisch und deswegen auch vernünftig. Wir wollen weiter eine Bündnispartei sein. Ich glaube, dass die Verbindung von der Regierungsverantwortung auf der einen Seite und dem Druck von Bewegungen auf der anderen Seite uns stark machen wird. Zwischen diesen Positionen zu vermitteln, wird die Aufgabe der Partei und ihrer Vorsitzenden sein.
Ricarda Lang: "Alter ist nicht entscheidend"
Sie werden im Januar 28. Ist man in dem Alter nicht ein bisschen jung für den Job als Parteivorsitzende?
Alter ist nicht entscheidend. Es kommt darauf an, zur richtigen Zeit die richtige Idee zu haben. Ich glaube, dass ich das habe. Ob das die Parteibasis auch so sieht, wird sie im Januar entscheiden.
Zur Zeit der rot-grünen Bundesregierung zwischen 1998 und 2005 standen die Vorsitzenden der Grünen oft im Schatten der Regierungsmitglieder. Wie wollen Sie der Parteiführung in Zukunft Gehör verschaffen?
Wir werden im Team spielen müssen. Wir haben uns unglaublich viel vorgenommen, allem voran die sozial-ökologische Transformation der Gesellschaft. Wenn wir die hinbekommen wollen, müssen wir unterschiedliche und auf allen Seiten selbstbewusste Rollen spielen, aber das gemeinsame Ziel muss über allem stehen.
Dieser Prozess muss auf jeden Fall weitergehen. Wir haben uns vor der Bundestagswahl ein großes Ziel gesetzt. Auf dem Weg dorthin sind wir große Schritte vorangekommen, aber wir sind noch nicht angekommen. Im ländlichen Raum gibt es immer noch Vorbehalte. Da fragen die Menschen: Funktionieren eure Konzepte auch für uns? Da müssen wir weiter Vertrauen gewinnen. Genau wie bei Menschen, die im Niedriglohnsektor arbeiten und vor dem Monatsende mehr Angst haben als vor der Klimakrise. Auch das bedeutet für mich die Öffnung der Partei.
Wie erklären Sie sich, dass die Grünen gerade im ländlichen Raum auf Vorbehalte stoßen?
Ich glaube, dass die gesamte Politik den ländlichen Raum und die Städte in den letzten Jahren häufig gegeneinander ausgespielt hat. Wir brauchen konkrete Lösungen für die Probleme der Menschen vor Ort. Vor allem brauchen wir stärkere Investitionen. Fährt noch ein Bus? Gibt es ein Schwimmbad, eine Kita und sichere Arbeitsplätze? Dafür braucht es einen investierenden Staat. Deswegen bin ich froh, dass wir diesen Paradigmenwechsel mit der Ampel auf den Weg gebracht haben.
In der öffentlichen Wahrnehmung haben die Grünen bei den Koalitionsverhandlungen sehr viele Zugeständnisse gemacht. Auch in Ihren eigenen Reihen gab es Murren.
Ich sehe eine ganz klare grüne Handschrift in diesem Koalitionsvertrag. Für mich ist nicht wichtig, wer in den ersten drei Wochen die schillerndste Öffentlichkeitsarbeit macht. Es geht darum, in den nächsten vier Jahren gut zu regieren. Dafür haben wir in diesem Koalitionsvertrag alle Möglichkeiten geschaffen.
"Eine allgemeine Impfpflicht ist ein Weg zurück zur Freiheit aller in dieser Gesellschaft"
In der Coronapolitik sind Grüne und SPD der FDP allerdings weit entgegengekommen. Dabei rufen die hohen Infektionszahlen doch nach scharfen Maßnahmen, auch nach Kontaktbeschränkungen.
Wir haben zuletzt noch einmal schärfere Beschränkungen beschlossen, die jetzt ja auch Wirkung zeigen. Ich muss aber auch sagen: Die Corona-Pandemie ist eine globale Krise, die den Alltag von jedem Einzelnen verändert. Sie stellt uns alle vor Risiken und gefährdet unsere Gesundheit. Das ist kein Bereich für Farbenspiele, für die Frage, wer mehr oder weniger bekommen hat. Da müssen alle Parteien Eitelkeiten hintanstellen. Wir müssen der vierten Welle Herr werden und weitere verhindern. Mit dem reformierten Infektionsschutzgesetz und mit dem Weg hin zu einer Impfpflicht haben wir die richtigen Weichen gestellt.
Sind Sie für eine allgemeine Impfpflicht gegen das Coronavirus?
Ich denke, dass der Bundestag darüber im nächsten Jahr in einer freien Entscheidung abstimmen wird – und ich finde das auch richtig. Viele Menschen, die sich schon haben impfen lassen, müssen in diesem Winter trotzdem wieder starke Einschränkungen mitmachen. Das ist jetzt leider notwendig. Wenn wir dem Vertrauen dieser Menschen gerecht werden wollen, brauchen wir eine Perspektive, wie wir zukünftigen Wellen vorbeugen. Eine allgemeine Impfpflicht ist für mich ein Weg zurück zur Freiheit aller in dieser Gesellschaft.
Die Ampel-Parteien betonen immer wieder, dass die Koalition mehr als ein Bündnis des kleinsten gemeinsamen Nenners ist. Wie kann aber der große gemeinsame Wurf aussehen, wenn es zum Beispiel um die Arbeitsbedingungen in der Pflege geht? Da hat die FDP andere Vorstellungen als Sie.
In der Pflege ist die Situation dramatisch. Viele Menschen haben den Job schon verlassen oder wollen das nach der Coronakrise machen. Und das in einer alternden Gesellschaft, in der wir immer mehr Pflegekräfte benötigen. Es braucht politisches Handeln – von festen Personalschlüsseln bis zu einer Klinikfinanzierung, die sich nicht nur an Profiten orientiert. In der Pflege ist die Realität so verheerend, dass alle Koalitionspartner verstanden haben, dass etwas passieren muss. Wenn das mal nicht so sein sollte, bin ich sehr gerne bereit, da einen Push zu geben.
Also werden die Grünen in der Regierung auch auf den Tisch hauen? Von außen entstand während der Koalitionsverhandlungen ein anderer Eindruck.
Ich glaube, dass nur noch wenig Leute Lust auf das alte Bild von Politik als Wildem Westen haben. Davon wird diese Koalition nicht geprägt sein – und das ist ein Fortschritt. Aber wenn es drauf ankommt, werden wir sehr klar in der Sache sein. Die Klimakrise zum Beispiel ist eine Menschheitskrise, und die Antworten darauf müssen groß sein. Das ist eine Mammutaufgabe, für die man den Rückhalt der Gesellschaft braucht. Genauso wie man die Ehrlichkeit braucht, zu sagen, was politisch notwendig ist.
Bundeskanzler Olaf Scholz hat in seiner Regierungserklärung betont, dass Klimaschutz auch ohne Verzicht der Bürgerinnen und Bürger möglich ist. Glauben Sie das auch?
Guter Klimaschutz setzt nicht auf individuelle Entscheidungen oder Moralvorstellungen. Mir ist es egal, wie Leute sich ernähren oder wie sie mobil sein wollen. Ich will aber eine Landwirtschaft, die im Einklang mit Natur und Tierschutz produziert. Ich will eine Mobilitätspolitik, die im ländlichen Raum überhaupt erst Freiheit schafft. Die Freiheit zu entscheiden, ob ich mit Bahn, Bus oder Auto unterwegs sein will. Die Politik hat die Aufgabe, die Strukturen für Klimaneutralität zu schaffen. Und zwar für alle, unabhängig vom Geldbeutel.
Sie sind nicht nur jung, sondern auch weiblich und bei den Grünen. Das stachelt offenbar die Ablehnung oder sogar den Hass von manchen Menschen an. Sie haben selbst mit Hass-Botschaften reichlich Erfahrung gemacht. Wie gehen Sie damit um?
Ich denke darüber nur noch wenig nach. Ich erstatte Anzeige, wenn ich etwas für strafrechtlich relevant halte. Ich habe ein sehr gutes Team, das mich dabei unterstützt. Aber ich habe entschieden, dass ich mir den Raum in Interviews nicht mit Menschen teilen will, die solche Nachrichten schreiben.
"Wir brauchen gesellschaftliche Solidarität über Parteigrenzen hinweg"
Das Problem ist aber groß. Im Internet kursieren inzwischen sogar Morddrohungen, zuletzt gegen den sächsischen Ministerpräsidenten Michael Kretschmer. Wie kann die Politik darauf reagieren?
Wir brauchen eine bessere Strafverfolgung. Wir brauchen eine gute Ausstattung und Schulung der Polizei. Wir brauchen aber auch gesellschaftliche Solidarität – und zwar über Parteigrenzen hinweg. Natürlich haben wir unterschiedliche Meinungen und Haltungen, aber wenn jemand von Feinden der Demokratie angegriffen wird, müssen alle Demokratinnen und Demokraten zusammenstehen. Wenn Stimmen oder Perspektiven aus der öffentlichen Debatte verdrängt werden sollen, ist das nicht nur ein Problem der Betroffenen, sondern der ganzen Demokratie.
Sie sind als stellvertretende Parteivorsitzende der Grünen bisher auch schon frauenpolitische Sprecherin. Das Thema hat in den vergangenen Jahren wieder an Bedeutung gewonnen. Was müssen Frauen im 21. Jahrhundert noch erreichen?
Es geht gar nicht so sehr darum, was Frauen noch für sich erreichen müssen. Es geht darum, was wir als Gesellschaft möglich machen. Frauenpolitik ist kein Gedöns. Viel zu oft müssen sich Frauen alleine durchschlagen. Dabei sind wir schon viel weiter. Wir haben viele Frauen und Männer, die sich die Kinderbetreuung gleichberechtigt teilen wollen. Das ist aber schwierig, wenn das Steuersystem ein konservatives Familienbild festschreibt. Das ist auch schwierig, wenn Familien gerade im ländlichen Raum keinen Kitaplatz finden. Eine gleichberechtigte Gesellschaft braucht eine Politik, die Strukturen verändert. Das ist für mich Feminismus im 21. Jahrhundert.
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