Das Bundesverfassungsgericht muss urteilen, ob Geldkürzungen für Arbeitslose gerechtfertigt sind, wenn die nicht pünktlich beim Amt erscheinen. Die wahren Leidtragenden der Hartz-Reformen sind aber andere: Langzeitbeschäftigte und Gutverdiener, sagt Moritz Kuhn, Professor für Makroökonomik an der Universität Bonn.
Herr Professor Kuhn, das Bundesverfassungsgericht muss darüber urteilen, ob die Sanktionen gegen Hartz-IV-Bezieher rechtens sind. Wenn Arbeitslose einen zumutbaren Job ablehnen oder nicht zu Terminen erscheinen, wird ihnen vom Jobcenter das Geld gekürzt. Geht das für Sie in Ordnung?
Moritz Kuhn: Die Sanktionen für Arbeitslose stehen derzeit im Fokus der Diskussion um Hartz IV. Ich halte es aber für falsch, dass sich die Diskussion so auf die Frage nach den Sanktionen verkürzt.
Das heißt nicht, dass Sanktionen kein wirksames Mittel im Arbeitslosenversicherungssystem sein können. Und vielleicht haben sie auch dazu beigetragen, dass mehr Menschen Beschäftigung aufgenommen haben.
Wir haben in unserer Studie gezeigt, dass seit den Hartz-Reformen die Wahrscheinlichkeit aus Arbeitslosigkeit in Beschäftigung zu wechseln um mehr als 10 Prozent angestiegen ist.
Für den großen Rückgang der Arbeitslosigkeit seit 2005 war dieser Effekte aber zweitrangig, gerade mal einmal ein Viertel des Rückgangs beruht darauf. Ich halte es daher für falsch, sich so stark auf die Sanktionen zu konzentrieren.
Aber sie wirken offenbar: Das ergaben auch Studien des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung: Die Sanktionen führen dazu, dass Menschen besser in den Beruf zurückvermittelt werden, wenn man die Beschäftigungsquoten von Sanktionierten und Nicht-Sanktionierten vergleicht.
Kuhn: Ich sage sicherlich nicht, dass die Sanktionen wirkungslos sind. Aber sie müssen nicht angewandt werden, um zu wirken. Es reicht, dass sie bestehen. Sieht man sich die Daten an, dann werden nur drei Prozent der Arbeitssuchenden sanktioniert.
Es ist wie im Straßenverkehr: Da muss ich auch nicht erst einen Strafzettel bekommen, um mich regelkonform zu verhalten. Es reicht zu wissen, wie teuer es wird, wenn ich eine Feuerwehrzufahrt blockiere und möglicherweise abgeschleppt werde.
Nur zehn Prozent der Sanktionen werden ausgesprochen, weil ein Arbeitsloser ein Jobangebot ablehnt, in 78 Prozent der Fälle dagegen geht es um versäumte Termine beim Amt. Warum gehen viel da nicht hin?
Kuhn: Selbst Forscherkollegen von mir sind überrascht, dass es hauptsächlich um Terminfragen geht. Sie hätten eher erwartet, dass Arbeitslose in Zeiten eines boomenden Arbeitsmarktes mal ein Arbeitsangebot ablehnen und daher sanktioniert werden.
Ich kann nur spekulieren, was Menschen bewegt, solche Termine nicht einzuhalten: Jemand, der meint, er bekomme schnell wieder einen Job, konzentriert sich womöglich eher auf die Jobsuche anstatt beim Amt vorstellig zu werden.
Wir kennen ein ähnliches Phänomen aus den USA, wo viele Leute ihren bestehenden Anspruch auf Arbeitslosengeld nicht wahrnehmen.
Dort ist eine der Erklärungen, dass viele vom erwarteten Aufwand abgeschreckt werden, den Amtstermine bedeuten – im Vergleich zur Aussicht auch von allein bald wieder Arbeit zu finden. Das muss man sich aber finanziell leisten können.
Die Sanktionierten können es sich also leisten, nicht mitzuwirken?
Kuhn: Es könnte sein, dass einige schlicht nicht wissen, dass gleich beim ersten verpassten Termin Sanktionen drohen.
Sehr wahrscheinlich haben viele Arbeitssuchende aber auch noch andere Probleme abseits des Arbeitsmarktes, die sie davon abhalten regelmäßig zu den Behörden zu gehen: psychische oder gesundheitliche Probleme, Streit mit dem Partner, Schwierigkeiten bei der Kinderbetreuung – wir wissen einfach zu wenig über diese Gruppe von Arbeitslosen.
Aber die Jobcenter müssten ihre Kunden doch bestens kennen?
Kuhn: Schon, aber wenn sie dort schon nicht regelmäßig auftauchen, um mitzuwirken, ist es für uns Forscher noch schwieriger, sie zu befragen, warum sie nicht hingehen.
Also könnte man ihnen vorwerfen, unwillig zu sein?
Kuhn: Es ist schwierig sich vorzustellen, was in jemandem vorgeht, der vielleicht schon seit längerem keinen Job hat und den ganzen Tag nicht arbeitet.
Oft besteht auch die Vorstellung, dass es so etwas wie Hartz-IV-Dynastien gibt, in denen bereits junge Leute vorgelebt bekommen, dass man gar nicht arbeiten muss, weil es ja Sozialleistungen gibt. Ich denke, dass es den meisten aber schwer zu schaffen macht, keine Stelle zu haben.
Die versinken darüber in völliger Perspektivlosigkeit. Wir wüssten sehr gern mehr darüber, Fakt ist aber auch: Im Vergleich zum gesamten Arbeitsmarkt betrifft das nur wenige Menschen.
Wir dürfen hier nicht aus dem Auge verlieren, dass eine ganz andere Klientel entscheidend für die Entwicklung des Arbeitsmarktes ist.
Und welche?
Kuhn: Die Langzeitbeschäftigten und Gutverdiener stehen hinter dem Erfolg der Hartz-Reformen und haben auch große Verluste hinnehmen müssen. Dass die Arbeitslosenzahlen seit 2005 gesunken sind, liegt nicht daran, dass Arbeitslose wieder in Arbeit vermittelt wurden.
Sondern es liegt zu 75 Prozent daran, dass weniger Beschäftigte in den vergangenen Jahren arbeitslos geworden sind. Weil sie nämlich – aus Angst vor dem Abrutschen in Hartz IV – lieber Lohnverzicht üben, um ihre Stellen zu erhalten.
Das empfinden viele als eine Gerechtigkeitslücke, die durch die Hartz-Reformen entstanden ist.
Wie könnte man das ändern?
Kuhn: Man könnte ihnen mehr Geld belassen in den Zeiten, in denen sie Arbeit haben – statt ihnen höhere Hilfen zu geben, wenn sie arbeitslos werden.
Über die Zahlungen zur Arbeitslosenversicherung etwa, die müsste man insgesamt stärker nach dem Verursacherprinzip staffeln, wie bei der Autoversicherung: Wer lange unfallfrei fährt, also keine Schäden im sozialen System verursacht und wenig Beschäftigte entlässt, der zahlt geringere Beiträge.
Wer Personal abbaut, zahlt mehr. Es ist ein zentrales Problem, dass nicht die Verursacher dafür zahlen, wenn sie Arbeitsplätze streichen, sondern dass sie die Kosten dafür der Gesellschaft aufbürden. Man würde den Firmen so diese sozialen Kosten bewusst machen.
Wenn der Fokus auf die Sanktionen nun falsch ist, worum sollte sich die Politik stattdessen kümmern?
Kuhn: Auch hier würde ich mich an der Gruppengröße orientieren und an den Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt: Ich denke, wir sollten viel mehr über die Karrieren und Arbeitsmarktverläufe von Frauen reden.
Sie machen die Hälfte der Bevölkerung aus, sind im Schnitt besser ausgebildet als Männer und trotzdem in vielen Bereichen des Arbeitsmarktes unterrepräsentiert.
Ich denke, dass wir hier alle noch zu sehr in alten Rollenbildern verhaftet sind. Für Frauen ist es viel schwerer, am Arbeitsmarkt Fuß zu fassen und die Politik scheint es für Frauen an vielen Stellen eher noch attraktiver machen zu wollen, den Arbeitsmarkt zu verlassen.
Wenn wir hier Fortschritte machen, hätten wir vermutlich auch andere Sozialprobleme gelöst.
Datenquellen:
- Institut für Arbeitsmarkt und Berufsforschung: "Wirkungen von Sanktionen für junge ALG-II-Bezieher: Schnellere Arbeitsaufnahme, aber auch Nebenwirkungen"
- Institut für Arbeitsmarkt und Berufsforschung: "Sanktionen, soziale Teilhabe und Selbstbestimmung in der Grundsicherung"
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