Der Internationale Strafgerichtshof (ICC) hat einen Haftbefehl gegen Israels Ministerpräsidenten Benjamin Netanyahu erlassen. Deutschland müsste Netanyahu festnehmen, sollte er einreisen. Was der Haftbefehl für die deutsch-israelischen Beziehungen bedeutet und welche Bedeutungen es hat, dass die USA und Israel den ICC selbst nicht anerkennen, erklärt Historiker Eckart Woertz im Interview mit unserer Redaktion.

Ein Interview

Im Mai beantragte Chefankläger Karim Khan Haftbefehl gegen Israels Premier Netanyahu. Es gilt eine der umstrittensten Entscheidungen in der Geschichte des Internationalen Strafgerichtshofs. Warum ist die Entscheidung so umstritten?

Eckart Woertz: Weil der israelisch-palästinensische Konflikt polarisiert wie kaum ein anderer, oft aus unterschiedlichen Gründen, beispielsweise in der arabischen Welt, in Deutschland und den USA. Von Netanjahu Unterstützern wird angeführt, dass er eine Gleichsetzung der israelischen Regierung mit Hamas Vertretern darstelle, da die Haftbefehle zeitgleich beantragt wurden. Aber beide werden ja unterschiedlicher Verbrechen angeklagt und Gleichzeitigkeit bedeutet keine Gleichsetzung.

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Nun hat der Internationale Strafgerichtshof (ICC) Haftbefehle gegen Israels Ministerpräsidenten Benjamin Netanyahu, den früheren Verteidigungsminister Joav Gallant und gegen den einstigen Hamas-Militärchef Mohammed Deif erlassen. Was wird den dreien, insbesondere Netanyahu, vorgeworfen?

Bei den Hamas Vertretern, von denen zwei sicher tot sind und einer vermutlich, ging es um den Terroranschlag vom 7. Oktober, die Ermordung von Zivilisten und die Vergewaltigungen. Bei Netanjahu und Gallant geht es vor allem um Hungerkriegsführung und Kollektivbestrafung der Zivilbevölkerung in Gaza.

Wann greift der Internationale Strafgerichtshof überhaupt ein? Hat er ein eigenes Gesetzbuch?

Er beruft sich unter anderem auf internationale Statuten und Verträge, wie die Genfer Konvention, die er verletzt sieht. Internationales Recht und Gerichtsbarkeit kennt im Unterschied zu nationalem Recht die Immunität von Staats- und Regierungschefs nicht, auch wenn Brasilien Anfang 2024 einen Reformversuch vorgeschlagen hat – vermutlich um Putin zu helfen, auf den ebenfalls ein ICC-Haftbefehl angesetzt ist.

Was bringen die Haftbefehle, wenn das Gericht mit Sitz in Den Haag selbst keine Möglichkeiten hat, die Haftbefehle auch zu vollstrecken?

Seine 125 Mitgliedsstaaten sind theoretisch dazu verpflichtet Haftbefehle zu vollstrecken, auch wenn Südafrika das im Falle des damaligen sudanesischen Machthabers Omar al-Bashir und die Mongolei jüngst im Falle von Putin nicht getan haben. Auch Viktor Orban aus Ungarn hat schon angekündigt, den Haftbefehl gegen Netanjahu nicht zu vollstrecken. Aber solch ein Haftbefehl schränkt die Bewegungsfreiheit Angeklagten schon massiv ein. Europa, Lateinamerika, Kanada und weite Teile Afrikas sind jetzt für Netanjahu und Gallant eine "No-go-zone" und der Reputationsschaden für Israel auf der internationalen Bühne ist immens.

"Da kann man nicht über einen ICC-Haftbefehl gegen Putin jubeln und dann einen ebensolchen gegen Netanjahu nicht durchsetzen."

Eckart Woertz

Welche Bedeutung hat es, dass die USA und Israel den ICC nicht anerkennen?

Dass die entsprechenden Politiker in diesen Ländern keine Einschränkung der Bewegungsfreiheit haben, zumindest nicht aufgrund des Haftbefehls des ICC. Auch China, Indien, Russland und weite Teile der islamischen Welt haben den ICC nicht anerkannt. Israel hat allerdings selber einen Rechtsstaat, auch wenn die gegenwärtige Regierung versucht hat, die Unabhängigkeit der Gerichte einzuschränken. Sollten israelische Gerichte ein Verfahren gegen Netanjahu und Gallant anstrengen, könnte diesen von daher Ungemach drohen. Dies ist zum gegenwärtigen Zeitpunkt jedoch unwahrscheinlich, allerdings gibt es dafür durchaus historische Präzedenzfälle.

Welchen beispielsweise?

Im Libanonkrieg 1982 kam es zu Massakern in den Palästinenserlagern Sabra und Schatila durch christliche, libanesische Milizen; die israelische Armee griff nicht ein und leistetet sogar logistische Unterstützung. Dies führte zu großer Empörung in Israel und es wurde eine Untersuchungskommission eingerichtet, die dann zum Rücktritt des damaligen Verteidigungsministers Ariel Scharon führte.

Was heißt der Haftbefehl nun für deutsch-israelischen Beziehungen?

Er ist äußerst delikat, da er einen Zielkonflikt offenbart zwischen Deutschlands Anspruch Zivilmacht zu sein und seinem vage formulierten Bekenntnis, dass Israels Sicherheit deutsche Staatsräson sei. Deutschland ist Gründungsmitglied des ICC und hat immer argumentiert, dass internationale Normen und Institutionen hochgehalten werden müssen. Da kann man nicht über einen ICC-Haftbefehl gegen Putin jubeln und dann einen ebensolchen gegen Netanjahu nicht durchsetzen.

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Deutschland würde Netanjahu also festnehmen?

Ich gehe davon aus, dass man Netanjahu bedeuten wird, von Reisen nach Deutschland Abstand zu nehmen. Treffen für den diplomatischen Austausch werden woanders stattfinden müssen und vielleicht bleibt Netanjahu ja nicht ewig Premierminister.

Über den Gesprächspartner

  • Prof. Dr. Eckart Woertz ist Historiker und lehrt im Arbeitsbereit Globalgeschichte an der Universität Hamburg. Seine Schwerpunkte liegen auf der Zeitgeschichte und Politik des Vorderen Orients und Nordafrikas.
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