Die verbotene kurdische Arbeiterpartei PKK hat jahrzehntelang gegen den türkischen Staat gekämpft. Nun hat ihr Anführer Öcalan aus dem Gefängnis heraus zur Beendigung des Konflikts aufgerufen. Experte Rasim Marz ordnet die Ereignisse ein.

Ein Interview

Seit den 1980ern hat die verbotene kurdische Arbeiterpartei PKK mit Waffengewalt und Anschlägen für einen kurdischen Staat gekämpft. Am Donnerstag hat PKK-Führer Abdullah Öcalan seine Anhänger aufgerufen – und die Auflösung der verbotenen Organisation bekannt gegeben. Der deutsch-türkische Historiker Rasim Marz ordnet den Vorstoß im Interview ein. Und er erklärt, was das für die Türkei bedeutet.

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Herr Marz, seit mehreren Jahrzehnten kämpft die PKK gegen den türkischen Staat. Nun hat PKK-Führer Abdullah Öcalan am Donnerstag (27.) aus dem Gefängnis heraus offiziell die Auflösung der kurdischen Terrororganisation bekannt gegeben. Wie kam es dazu?

Rasim Marz: Öcalans Aufruf muss im Spiegel der aktuellen Ereignisse im Nahen Osten betrachtet werden. Die Türkei hat durch neue Allianzen und kurdische Verbündeten im In- und Ausland die marxistisch-leninistische Terrororganisation PKK in der Region eingekesselt. Der Umsturz in Syrien mit der Hilfe Ankaras hat zur großen Wende im Kurdenkonflikt beigetragen. Syrien dient nicht mehr als Rückzugsort der PKK und die pro-türkische Regierung in Damaskus will die kurdischen Verbände im Norden des Landes zur Auflösung und Integration in die neue syrische Armee erzwingen.

Die Lage für die PKK war also aussichtslos?

Ja richtig. Ihre Lage war aussichtslos.

Was dürfte mit den kurdischen Kommandeuren jetzt passieren, werden sie Öcalans Aufruf nachkommen?

Es ist fraglich, ob alle kurdischen Kommandeure dem Aufruf Öcalans Folge leisten werden. 2015 scheiterte der Friedensprozess wegen der ablehnenden Haltung der kurdischen Kommandoführung, jedoch war die PKK zu diesem Zeitpunkt in vier Staaten der Türkei, Irak, Iran und Syrien aktiv. Die Türkei konnte durch eine neue Anti-PKK-Allianz den Einfluss der Terrororganisation bis auf Nordostsyrien zurückdrängen.

Welches Kalkül verfolgt Ankara?

Die Türkei benötigt den Frieden im Inneren: Angesichts der gegenwärtigen geopolitischen Entwicklungen steht sie an der Schwelle zur Großmacht – für die Erweiterung ihres Einflusses im Nahen Osten braucht sie die Kurdengebiete, um agieren zu können.

Welches Ziel verfolgt Präsident Erdogan?

Präsident Erdogan und die türkische Führung verfolgen das Ziel, das Erbe des Osmanischen Reiches anzutreten und die Türkei im 21. Jahrhundert unter die führenden Staaten der Welt zu bringen. Hierzu bedarf es einer türkisch kurdischen Allianz auf Grundlage einer islamischen Identität und einer gemeinsamen Geschichte, um nicht nur als Regionalmacht, sondern auch als geopolitischen Akteur aufzuwarten.

"Die Einigung im Kurdenkonflikt ist für Präsident Erdogan innenpolitisch ein großer Erfolg."

Rasim Marz

Initiator war der Nationalistenführer Devlet Bahceli. Der Vorsitzende der ultrarechten MHP hatte den inhaftierten PKK-Anführer Abdullah Öcalan schon wenige Wochen vor dem Regimesturz in Syrien dazu aufgefordert, die kurdische Terrororganisation PKK aufzulösen und die Waffen niederzulegen. Bahceli war eigentlich ausgesprochener Gegner einer Aussöhnung mit der PKK. Wieso hat er seine Haltung geändert?

Damit die Türkei zur Großmacht wird, war dieser Schritt erforderlich. Ohne die Kurden wäre dieses Ziel nicht erreichbar. Die Nationalisten und Erdogan wollen die Türkei zur Großmacht machen, weshalb der innere Kurdenkonflikt ein Ende finden muss, um sich größeren geopolitischen Zielen widmen zu können. Hinzu kommt die benötigte Kooperation mit konservativen kurdischen Akteuren im Nahen Osten, um den Status als Großmacht erreichen zu können.

Wie groß ist der Erfolg also nun für Präsident Erdogan?

Die Einigung im Kurdenkonflikt ist für Präsident Erdogan innenpolitisch ein großer Erfolg – auch, um von der wirtschaftlichen Lage der Türkei ablenken zu können. Es ist zugleich ein Meilenstein in seiner langen politischen Karriere, sofern der Frieden hält. Hierzu muss die türkische Führung auch bereit sein, den Kurden im Land Konzessionen zu machen.

Welche könnten das sein?

Die türkische Regierung könnte im Gegenzug eine Amnestie aussprechen, um die Freilassung kurdischer Politiker wie Selahattin Demirtas und weiterer Kommunalpolitiker sowie ihre Rückkehr in die Verwaltung zu ermöglichen.

Wie geht es jetzt weiter?

Ob die Trump-Administration in Washington dem Plan Ankaras zustimmt, führende Macht im Nahen Osten zu werden und durch den beigelegten Kurdenkonflikt auch den türkisch-syrischen Raum zu kontrollieren, bleibt noch abzuwarten. Es sind nämlich noch weiterhin amerikanische Truppen im Kurdengebiet in Nord-Syrien stationiert.

Daran könnte der Friedensprozess also noch scheitern?

Die Türkei hat mehrfach in der Vergangenheit signalisiert, das Vakuum, dass die USA im Nahen Osten hinterlassen hat, auszufüllen. Die Frage ist, zu welchem Preis Trump die letzten US-Soldaten abziehen wird, um der Türkei das Spielfeld zu überlassen.

Über den Gesprächspartner

  • Rasim Marz ist ein deutsch-türkischer Historiker und Publizist für die Geschichte des Osmanischen Reiches. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählt neben Syrien auch die europäische und osmanische Diplomatie des 19. Jahrhunderts sowie die Subversion des Nahen Ostens im 20. Jahrhundert.