- Im Jahr 2021 haben dreimal so viele Migranten wie im Vorjahr versucht, den Ärmelkanal von Frankreich nach Großbritannien mit Booten zu überqueren.
- Mehr als 8.600 Menschen konnten von französischen Sicherheitskräften aus Seenot gerettet werden.
- Warum die Migration über den Ärmelkanal so stark angestiegen ist und welche Rolle der Brexit spielt, erklären zwei Wissenschaftlerinnen.
Die Migrationskrise in Europa wurde auch im vergangenen Jahr nicht durch die Corona-Pandemie ausgebremst. Wie die jüngsten Zahlen zeigen, versuchten 2021 dreimal so viele Migranten wie im Vorjahr, den Ärmelkanal auf Booten zu überqueren – unter teils lebensgefährlichen Bedingungen.
Insgesamt wurden 1.360 Versuche mit etwas über 35.000 Personen an Bord erfasst. Das berichtet die Deutsche Presse-Agentur dpa unter Berufung auf die zuständige Meerespräfektur in Cherbourg. Mehr als 8.600 Migranten wurden von den französischen Sicherheitskräften aus Seenot gerettet. 2020 hatten insgesamt 9.551 Menschen versucht, den Ärmelkanal zu überqueren.
Lebensgefährliche Überfahrt
Der Ärmelkanal trennt Europa und Großbritannien voneinander. Zwischen dem französischen Calais und dem britischen Dover beträgt der kürzeste Abstand zwischen den Küsten rund 32 Kilometer. Mit der Fähre dauert die Überfahrt etwa 90 Minuten – Tickets kosten für einen Fußgänger ohne PKW rund 26 Euro. Nicht für diejenigen allerdings, die ohne Pass und Visum ins Land kommen wollen. Auf überfüllten Schlauchbooten wagen sie die Überfahrt unter lebensgefährlichen Bedingungen.
"Oft sind die Witterungsverhältnisse ungünstig. Der Ärmelkanal ist eine der meist befahrenen Wasserstraßen weltweit, es gibt starke Strömungen und Frachter können nicht abrupt bremsen und ausweichen", sagt Birgit Glorius. Sie ist Sozialgeographin an der Technischen Universität Chemnitz. Den starken Anstieg der Transitmigranten erklärt sie vor allem mit der Corona-Pandemie und dem Brexit.
Pandemie spielt eine Rolle
"Durch die Pandemie ist weniger Verkehr nach UK zu verzeichnen. Dadurch sind auch die Chancen auf eine erfolgreiche Flucht gesunken, denn viele haben zuvor versucht, illegal über den LKW-Verkehr einzureisen", so Glorius.
Gleichzeitig stecke hinter der Migration aber auch ein großes Geschäft. Die Schleuser hätten flexibel darauf reagiert, dass Großbritannien die EU verlassen hat. "Das Dublin-Verfahren gilt für UK nicht mehr. Als EU-Staat konnte das Vereinigte Königreich noch prüfen, ob die Menschen zuvor in einem anderen sicheren EU-Land waren", sagt die Expertin.
Auswirkungen des Brexit
Dieses Land sei dann für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig gewesen. "Allerdings sind Dublin-Verfaren ohnehin oft darin geendet, dass die Menschen doch nicht zurückgeschickt wurden. Es bleibt nämlich nur ein halbes Jahr Zeit, das Verfahren erfolgreich durchzuführen – später kann das angefragte Land die Aufnahme verweigern", sagt Glorius.
Dennoch stehe Großbritannien nun ohne die Dublin-Regel da und habe es verpasst, bilaterale Vereinbarungen mit EU-Ländern zu treffen.
Neuformierter Arbeitsmarkt
Auch aus Sicht von Sylvia Hahn, Migrationsforscherin der Universität Salzburg, wurzelt der starke Anstieg der Transitmigranten vor allem im Brexit. "Der Arbeitsmarkt in Großbritannien hat sich nach dem Brexit neuformiert. Zahlreiche Arbeitsmigranten aus Polen und Rumänien, die die größte Gruppe von Migranten aus den EU-Ländern bis zum Brexit darstellten, haben das Land verlassen", erläutert die Expertin.
Die Folge: Ein großer Arbeitskräftebedarf in zahlreichen Erwerbsbereichen, den zuvor EU-Migranten ausfüllten. "Für Nicht-EU-Einwanderer haben sich zahlreiche Job-Möglichkeiten ergeben", so Hahn.
Schließung von französischem Lager
Ein weiterer Faktor stellt aus ihrer Sicht auch die Schließung des Lagers in Dunkerque dar, das bereits seit Jahren für seine unhaltbaren Zustände bekannt war.
Bereits 2016 berichtete das Flüchtlingshilfswerk UNHCR der Vereinten Nationen über besorgniserregende Zustände in den Camps von Calais und Dunkirk. Besonders erschreckend waren die Berichte über sexuelle Ausbeutung und Handel von unbegleiteten Minderjährigen in den Camps.
Leichenfund von Grays
"Die Anzahl der Migranten, die den Ärmelkanal überquerten, war deshalb bereits in früheren Jahren sehr hoch. Zwischen 20.000 bis 25.000 überquerten jährlich den Kanal – vorwiegend aber in LKW und Containern", erinnert Hahn.
Im Oktober 2019 wurden die Leichen von 39 Menschen aus Vietnam in einem Kühlauflieger in Grays, nahe London, gefunden. Sie waren an Sauerstoffmangel und Überhitzung verstorben. Die Migranten sollten auf diesem Weg in das Vereinigte Königreich geschmuggelt werden.
Skrupellose Schlepper
Weniger gefährlich ist die Schleusung per Boot über den Kanal nicht. "Wie Unglücksfälle zeigen, agieren die Schlepper auch hier völlig skrupellos hinsichtlich der Ausstattung der Boote und ungeachtet der Wetterverhältnisse, die ein zusätzliches Risiko bei dieser Form der Channel-Überquerung darstellen", sagt Hahn.
Dass die Menschen die gefährliche Überfahrt trotzdem wagen, erklärt Geographin Glorius vor allem mit ihrem "sozialen Kapital". Sie erklärt: "Die Verkehrssprache Englisch ist ein großer Pull-Faktor. Die Menschen wollen sich ein neues Leben aufbauen, viele kommen aus Irak, Iran, Syrien, Eritrea und haben Englisch-Kenntnisse".
Warum viele nach England wollen
Gerade Iraker und Iraner könnten eine bestehende Community in Großbritannien ansteuern, weil familiäre oder freundschaftliche Verbindungen bestünden. Hahn bestätigt das: "Gerade England war und ist stets ein Zielpunkt von politisch oder religiös verfolgten Menschen. Dazu kommt, dass England als ehemaliges Empire mit seinen zahlreichen kolonialen Besitzungen für viele Bewohner dieser ehemaligen Kolonien noch immer als mögliches Zielland im kollektiven Gedächtnis vorhanden ist", sagt sie.
"Auch die sich nach dem Brexit ergebende große Nachfrage nach Arbeitskräften im Transport- und Baubereich, um nur zwei Beispiele zu nennen, dürfte ebenfalls ausschlaggebend sein", sagt sie. Hinzu komme, dass es in Großbritannien kein Meldewesen gebe, was für neu ankommende Migranten nicht unwesentlich ist.
Migranten als politische Spielbälle
Zwischen Frankreich und Großbritannien ist die Transitmigration über den Ärmelkanal derweil ein Streitpunkt. Erst Ende 2021 hatte der Tod von mindestens 27 Migranten im Ärmelkanal für Spannungen gesorgt. Dabei wiesen sich London und Paris gegenseitig die Schuld zu. Während Boris Johnson von Frankreich schärfere Kontrollen forderte, warf die Bürgermeisterin der französischen Küstenstadt Calais dem Premierminister Feigheit vor.
Auch Hahn sieht einen verschärften Konflikt: "Frankreich will die Migranten nicht mehr zurücknehmen – Großbritannien will sie im Festlandeuropa lassen", sagt sie. Es sei zu befürchten, dass die Migranten zu politischen Spielbällen würden - ähnlich wie am Meer zwischen Griechenland und der Türkei.
Mehr Resettlement gefordert
Beide Expertinnen fordern deshalb Maßnahmen auf mehreren Ebenen. "Zum einen ließe sich polizeilich der Kampf gegen organisierten Menschenschmuggel verstärken, die humanitäre Antwort wäre zudem, auf diplomatischem Wege die Resettlement-Aktivitäten von Großbritannien zu verstärken", sagt Glorius.
Hahn ergänzt: "Das Schlepperwesen ist mittlerweile weltweit zu einem der lukrativsten Wirtschaftszweige geworden, an dem global einige Millionen von Menschen beteiligt sind und sich daran bereichern". Es sei eine gravierende Schwachstelle, dass gegen dieses global vernetzte Schlepperwesen nicht strukturiert vorgegangen werde. "Es sind diese Agenturen und "Menschenhändler", die den Frauen und Männern versprechen, sie in Sicherheit zu bringen oder ihre Träume von einem besseren Leben in der EU verwirklichen zu können", sagt sie.
Verwendete Quellen:
- Interview mit Prof. Dr. Birgit Glorius
- Interview mit Prof. Dr. Sylvia Hahn
- UNHCR: UNHCR concerned about conditions in Calais and Dunkerque
Korrektur: In einer früheren Version dieses Artikels wurde berichtet, dass das Ticket für die Fahrt einer Fähre zwischen dem französischen Calais und dem britischen Dover rund 260 Euro koste. Richtig ist, dass das Ticket rund 26 Euro kostet.
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