Sachsens Integrationsministerin Petra Köpping (SPD) hat mit "Integriert doch erst mal uns" eine Streitschrift für den Osten verfasst. Ihre These: Auch 30 Jahre nach dem Mauerfall würden sich viele Menschen in den neuen Bundesländern nicht als vollwertiger Teil der Gesellschaft fühlen. Aus ihrem Frust erwachse die Sympathie für rechte Parteien. Im Interview mit unserer Redaktion fordert sie: Wir müssen reden - und handeln.

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Frau Köpping, Sie stammen selbst aus Ostdeutschland und beklagen die mangelnde Teilhabe Ostdeutscher. Böse Zungen werden sagen: typisch Jammer-Ossi.

Petra Köpping: Das mag schon sein, aber ich jammere nicht. Ich stelle nur fest, dass wir die Nachwendezeit aufarbeiten müssen. Wir müssen uns anschauen, was gut gelaufen ist, aber auch, welche Probleme entstanden sind und wie man Abhilfe schaffen kann. Das treibt immer noch sehr viele Menschen im Osten um.

Wir schreiben das Jahr 2019. Der Mauerfall jährt sich zum 30. Mal. Westler hier, Ostler da - sollte das nicht längst der Vergangenheit angehören?

Köpping: Leider glauben viele, dass es keinen Gesprächsbedarf gibt. Und den hätten wir auch nicht, wenn wir das Thema in den vergangenen Jahren nicht totgeschwiegen hätten. Wir haben über viele dieser Themen jahrelang kaum gesprochen. Wo das hinführt, sieht man jetzt: Die Menschen gehen zu Pegida und zur AfD und wir ostdeutsche Politiker werden gefragt: 'Warum haben die Rechten gerade im Osten so viel Zulauf?'

Welche Antwort haben Sie?

Köpping: Ich nehme nicht in Anspruch, die absolute Wahrheit zu kennen. Meine Denkanstöße sind kein Allheilmittel, das möchte ich gleich vorwegschicken. Die AfD ist ja inzwischen in ganz Deutschland erfolgreich. Ein Anlass dafür war sicher die Flüchtlingspolitik. In den ostdeutschen Bundesländern aber hat die AfD teilweise doppelt so viele Prozentpunkte gewonnen wie im Westen. Das liegt meines Erachtens daran, dass im Osten viele Menschen das Gefühl haben, dass mit den Migranten schon wieder die nächste große Veränderung kommt, obwohl wir mit der Wiedervereinigung noch gar nicht fertig sind. Das meinen die Menschen, wenn sie zu mir sagen: 'Integriert doch erst mal uns'.

Ein anderes Zitat aus dem Buch, das nachdenklich macht, ist das eines Mannes, der Ihnen schrieb: 'Wenn Sie für mich auf dem Land eine Frau finden, gehe ich nicht mehr zu Pegida.'

Köpping: Aus manchen Regionen ist eine ganze Generation weggegangen. Die Kirche hat sich aus der Fläche zurückgezogen, die Bürgermeister haben durch die Gebietsreformen größere Gemeinden zu betreuen und so in ihre Rolle als Ansprechpartner vor Ort gravierend eingebüßt. Einsamkeit ist da ein großes Thema. Das Gegenteil erleben die Leute dann bei Pegida - da verabredet man sich mit Gleichgesinnten, spricht über Probleme. Ich habe erlebt, wie da Gemeinschaft entstanden ist, die an anderer Stelle fehlt: 'Du Karl-Heinz, nächsten Montag treffen wir uns wieder. Ich bin pünktlich da.'

Kernthese Ihres Buches ist, dass ein Mangel an Wertschätzung bei vielen Ostdeutschen für Frust sorgt. Was ist es, was die Westdeutschen übersehen?

Köpping: Die DDR-Bürger mussten nach der Wende von einem Tag auf den anderen in einer völlig neuen Gesellschaft zurechtkommen. Das ist fast niemandem leichtgefallen. Geld, Ausweis, Autokennzeichen, Versicherungen und Schulsystem. Alles hat sich innerhalb kürzester Zeit verändert. Zudem hatten viele Menschen in der DDR eine sehr gute Ausbildung, auch die Frauen, die ja, anders als zu dieser Zeit im Westen üblich, meist auch berufstätig waren. Plötzlich aber waren viele Facharbeiter- oder Hochschulabschlüsse nichts mehr Wert. Weil es bald keine textilverarbeitende Industrie mehr gab, waren auch die Textilarbeiter überflüssig, um nur ein Beispiel zu nennen. Die Betroffenen mussten sich mit ständigen Umschulungen und niedriger qualifizierten Berufen durchschlagen. Das hat sie gedemütigt.

Und diese Demütigung sitzt auch nach 30 Jahren noch tief?

Köpping: Ja, absolut. Jetzt ist der Zeitpunkt gekommen, an dem viele bemerken, was das finanziell für sie bedeutet. Die damals 30-Jährigen gehen jetzt in Rente, können von dem, was sie nach 30 Jahren im Niedriglohnsektor bekommen, aber nicht leben. Sie landen in der Altersarmut.

Mit reden allein dürfte diesen Menschen nicht geholfen sein.

Köpping: Gespräche sind außerordentlich wichtig. Wenn ich Diskussionsrunden zur Nachwendezeit oder Lesungen zu meinem Buch mache, sind die Säle voll. Der Bedarf ist also da. Außerdem kann man viele Dinge nicht mit Geld heilen. Ich halte es aber durchaus für notwendig, auch zu schauen, wo man mit Geld etwas reparieren kann. Deshalb hat die Bundesregierung auf Initiative der SPD im Koalitionsvertrag einen Härtefallfonds vereinbart. Ich dränge darauf, dass jetzt festgelegt wird, welche konkreten finanziellen Maßnahmen für wen zur Verfügung stehen.

Auch Migranten müssen Jobs annehmen, für die sie überqualifiziert sind. Auch in Westdeutschland gibt es Altersarmut. Ist das nicht eine Form von Ungleichheit, was Sie da fordern?

Köpping: Ich will ja keinen neuen Soli, sondern gezielte Hilfe. Wer ein Leben lang gearbeitet hat, muss von seiner Rente leben können. Das gilt natürlich für alle Bürger. Bei uns im Osten treten manche Probleme verstärkt auf, was nicht heißt, dass es sie im Westen nicht auch gibt.

Als Thilo Sarrazin prophezeite, Deutschland schaffe sich ab, sprach das ganze Land davon. Ihrem Buch fehlt eine solche Resonanz.

Köpping: In den Läden liegt gerade die fünfte Auflage, das ist für ein Sachbuch eine große Nummer. Gleichzeitig kann ich mich vor Interviewanfragen und anderen Terminen zur Nachwendezeit kaum retten. Insofern: Ich bin positiv überrascht, wie gut es läuft.

2019 finden in drei ostdeutschen Bundesländern Landtagswahlen statt, in Brandenburg, Thüringen und bei Ihnen in Sachsen. Wie will die SPD die AfD ausbremsen?

Köpping: Alle unangenehmen Themen müssen auf den Tisch, auch die, für die wir Sozialdemokraten politische Verantwortung mittragen. Längst nicht alles rührt aus der Nachwendezeit her. Wir brauchen Antworten auf den Lehrermangel, den Fachkräftemangel in der Pflege, die personellen Engpässe in der Polizei. Sachsen war ja lange bekannt dafür, dass es stark spart. Wir haben im vergangenen Jahr einen Haushalt verabschiedet, wie er in dieser Fülle und in dieser Konkretheit so noch nie dagewesen ist. Wir investieren in Schulen, Polizei, Infrastruktur, in ländliche Räume. Außerdem bieten wir den Bürgern viele Gelegenheiten zur Diskussion, zum Beispiel das Sachsengespräch mit Ministerpräsident Kretschmer. Es soll nicht länger heißen 'die da oben, wir da unten'.

Petra Köpping ist Staatsministerin für Gleichstellung und Integration in Sachsen. Die SPD-Politikerin hat das Buch "Integriert doch erst mal uns! Eine Streitschrift für den Osten" verfasst. Es ist beim Ch. Links Verlag erschienen. Die Taschenbuchausgabe kostet 18 Euro.


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