AfD-Vize Alexander Gauland findet, man könne sich in der Flüchtlingsfrage "nicht von Kinderaugen erpressen lassen", Innenminister Thomas de Maizière erklärt, dass "wir jetzt einige Wochen ein paar harte Bilder aushalten müssen".

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Manche Beobachter lesen in solchen Aussagen eine Tendenz zur Verrohung der Gesellschaft, mit politischer Legitimation. Auch Martin Emmer von der FU Berlin sieht eine solche Gefahr.

Herr Emmer, vor einigen Wochen hat Herr Gauland gesagt, man dürfe sich von Kinderaugen nicht erpressen lassen, und kürzlich hat Herr de Maizière erklärt, wir müssten jetzt ein paar Wochen lang harte Bilder aus Idomeni ertragen. Welche Folgen können solche Äußerungen für die Stimmung in der Gesellschaft gegenüber Flüchtlingen haben?

Martin Emmer: Zunächst einmal machen solche Sätze deutlich, dass jene, die sie sagen, sich in der Defensive befinden und Schwierigkeiten haben, ihre politische Position zu vertreten.

Herr Gauland und Herr de Maizière haben den Bildern aus Idomeni offenbar wenig Argumente entgegenzusetzen. Diese Bilder machen die zuvor sehr scharfe Debatte weicher, und manche Politiker versuchen dem entgegenzusteuern. Ich bin aber skeptisch, dass ihnen das gelingt.

Für manche klingen Äußerungen wie die des Innenministers und des AfD-Vizes nach einer politischen Legitimation eines bewussten Wegschauens und Ignorierens menschlichen Leides - wie beurteilen Sie das?

Bei Herrn Gaulands Aussage geht es eindeutig darum zu verhindern, dass die Menschen sich vom Schicksal der Flüchtlinge anrühren lassen. Große Augen, wie die von Kindern, erzeugen Empathie und sorgen dafür, dass Menschen sich füreinander verantwortlich fühlen. Wenn man das auf diese Weise denunziert, legt man in der Tat die Axt an ganz grundlegende Werte unseres Zusammenlebens.

Begründet werden solche Aussagen gerne mit Realpolitik, die dann gleichbedeutend sein soll mit vernünftiger Politik. Geht es also auch darum, das Wegsehen in diesem Fall vernünftig, sogar als alternativlos zu verkaufen?

Das wäre zu viel gesagt. Realpolitik heißt ja erst einmal nur, dass man versucht, das Machbare möglich zu machen und dass man dabei Kompromisse eingeht. Dahinter steht die Überlegung, dass es in der Politik oft keine perfekte Entscheidung gibt, sondern dass jede Entscheidung auch Nachteile hat. Vernünftig ist so etwas nur, wenn man dem Schaden, den man mit einer Entscheidung anrichtet, einen größeren Nutzen entgegenstellen kann.

Ein Beispiel aus der Geschichte ist die Entscheidung der Regierung von Helmut Schmidt, nicht auf die Erpressung der RAF einzugehen und damit Hanns Martin Schleyer zu opfern. Damals konnte man plausibel machen, dass der Schuld, die man auf sich geladen hatte, auf der anderen Seite ein größerer Nutzen gegenübersteht.

In der Flüchtlingsfrage muss man sich diese Frage auch stellen - und im Moment kann man zumindest in den Aussagen von Herrn Gauland und Herrn de Maizière nicht viele Argumente für einen Nutzen für die Gesellschaft entdecken, der das Leid der Flüchtlinge aufwiegen würde.

Sind Empathie und Vernunft eigentlich Gegensätze? In den Debatten über das Thema Flüchtlinge könnte man bisweilen den Eindruck gewinnen.

Ich denke nicht. Auch bei einer Flüchtlingspolitik, die Grenzen setzt, könnte man empathisch argumentieren. Man könnte sich zum Beispiel mehr Gedanken darüber machen, was mit den Flüchtlingen passiert, die wir nicht aufnehmen. Forderungen, möglichst wegzuschauen, sind da aber nicht besonders hilfreich.

Sehen Sie eine Gefahr, dass wenn Regierungspolitiker wie Herr de Maizière sagen "Solche Bilder müssen wir aushalten", Werte wie Menschlichkeit, die in unserer Gesellschaft als nicht verhandelbar gelten, an Bedeutung verlieren?

Durchaus. Zumal man ja auch im Handeln der Regierung einen Widerspruch sieht. Kanzlerin Merkel hat im Sommer auf die Bilder der Flüchtlinge in Ungarn anders reagiert, als sie heute auf die Bilder aus Idomeni reagiert. Solch eine Wende ist schwer zu begründen. De Maizières Aussage nun aber als direkten Angriff auf unser Wertesystem zu sehen, fände ich übertrieben. Anders ist das bei der Äußerung von Herrn Gauland. Sie ist ein Frontalangriff auf unser Wertesystem.

Ein Autor der "Zeit" hat vor einigen Wochen getwittert, er sehe unter anderem in Herrn Gaulands Warnung vor der erpresserischen Wirkung von Kinderaugen eine "politische Verrohungskampagne". Geben Sie ihm recht?

Ja. Denn tatsächlich erfüllen Kinderaugen einen wichtigen Zweck in unserer Evolution und diese Bedeutung spiegelt sich auch in den Werten, die wir haben, etwa der Unverletzlichkeit der Person und der Menschenwürde. Hier werden zentrale Grundwerte des menschlichen Zusammenlebens angegriffen und dem muss man entgegentreten.

Inwiefern können Gaulands und de Maizières Äußerungen dazu führen, dass der derzeitige Umgang mit den Flüchtlingen zu einer Art moralischem Präzedenzfall wird?

Generell kann es natürlich Abstumpfungseffekte geben. Je länger solche Bilder wie die aus Idomeni in den Medien sind, je öfter sie sich wiederholen, desto weniger Nachrichtenwert haben sie und desto weniger werden die Menschen davon berührt. Ob man allerdings das Mitgefühl in der Flüchtlingsdebatte durch entsprechende Äußerungen wie die von Herrn Gauland komplett ausschalten kann, wage ich zu bezweifeln. Denn die Bilder sind einfach zu drastisch.

Martin Emmer ist Professor für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft an der Freien Universität Berlin. Er beschäftigt sich viel mit politischer Kommunikation und politischer Öffentlichkeit, zuletzt vor allem mit der Rolle der sozialen Medien.
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