Die Kurden im Nordirak haben sich bei ihrem Referendum mehrheitlich für einen eigenen Kurdenstaat entschieden. Für die Kurden würde damit ein Versprechen der Siegermächte aus dem Ersten Weltkrieg in Erfüllung gehen. Aber rechtlich verbindlich ist die Volksabstimmung nicht - und die Entwicklung sehr gefährlich. Denn nun drohen neue bewaffnete Auseinandersetzungen, die sich zum Bürgerkrieg im Irak auswachsen könnten, glaubt Orientexperte Dr. Udo Steinbach.
Die Kurden im Nordirak haben sich mit großer Mehrheit für einen unabhängigen Kurdenstaat entschieden. Das Referendum ist nicht rechtsverbindlich.
"Dennoch ist die Volksabstimmung eine Provokation für die Länder, in denen Kurden leben", sagt Orientexperte Dr. Udo Steinbach.
Dies sei eine sehr gefährliche Entwicklung, die den Verfallsprozess des Irak weiter anheize und zu einem Bürgerkrieg führen könne.
Streit um ölreiche Gebiete
Der Irak ist längst in kurdische, schiitische und sunnitische Gebiete zerfallen. Die Zentralregierung in Bagdad unter dem schiitischen Ministerpräsidenten Haider al-Abadi ist strikt gegen eine Unabhängigkeit Kurdistans.
Denn die Kurden haben im Kampf gegen den IS ein Gebiet erobert, das weit über ihr Autonomiegebiet hinausreicht. Neben den Gouvernements Erbil, Dahuk, Halabdscha und Sulaymaniya beherrschen die Kurden jetzt auch die Gebiete Shingal und Kirkuk.
Und das ist das eigentliche Problem. Denn diese Gebiete sind ethnisch stark gemischt und besonders ölreich.
"Die Verteilung der Öleinnahmen ist im Irak schon lange ein Streitpunkt", berichtet Steinbach. Mit der Kontrolle von Kirkuk haben die Kurden nun reiche Öleinnahmen, die sie über die Türkei verkaufen.
Eine Abspaltung dieser Gebiete werde die Zentralregierung in keinem Fall akzeptieren, so der Orientexperte.
Schiitische Milizen könnten Kurden angreifen
"Dass Kurdenpräsident Masud Barzani das Referendum zur Unabhängigkeit auch in diesen Gebieten durchgeführt hat, ist eine Art Kriegserklärung", glaubt Steinbach.
Denn schiitische Milizen könnten nun versuchen, diese Region mit Waffengewalt wieder unter ihre Kontrolle zu bringen. Das sei bislang nur eine Drohung, und es bestehe noch Verhandlungsspielraum für eine friedliche Lösung.
Wenn es allerdings zu einer militärischen Auseinandersetzung zwischen Schiiten und Kurden komme, dann drohe ein Bürgerkrieg im Irak.
Nachbarstaaten fürchten ebenfalls Abspaltungsbestrebungen
Für die Nachbarstaaten, in denen große kurdische Minderheiten leben, ist das Szenario ebenfalls bedrohlich. "Der Iran ist gegen ein unabhängiges Kurdistan, weil er dann Abspaltungsbestrebungen im eigenen Land befürchtet", erläutert der Orientexperte.
Hinzu komme, dass Israel als einziges Land ein unabhängiges Kurdistan unterstütze. Der Grund ist geopolitischer Pragmatismus: "Israel befürchtet eine iranisch dominierte schiitische Superregion", sagt Steinbach. Mit einer kurdischen Unabhängigkeitsbewegung wäre Teheran erstmal von Israel abgelenkt.
Auch die Türkei habe mit einem unabhängigen kurdischen Staat große Probleme. "Bis vor zwei, drei Jahren unterstützte der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan den kurdischen Präsidenten Barzani", berichtet Steinbach.
Die feudalistisch geprägte Regierung der irakischen Kurden sei sowas wie ein Bollwerk gegen die marxistisch orientierte kurdische PKK gewesen, die in der Türkei für Unabhängigkeit kämpfe.
Doch diese Freundschaft sei nun beendet. Erdogan drohe unverhohlen mit der Schließung der Grenzen und militärischen Aktionen gegen Kurden.
Damit schneide sich die Türkei zwar ins eigenen Fleisch, denn an den kurdischen Öllieferungen habe sie sehr gut verdient, doch die Bedrohung durch einen Kurdenstaat sei einfach zu groß.
Der Türkei ist ein stabiler Irak wichtig
Im Nachbarland Syrien, das vom Bürgerkrieg zerrissenen ist, wollen die Kurden ebenfalls einen unabhängigen Staat errichten.
Sie arbeiten schon lange mit der PKK zusammen und sind ebenso marxistisch orientiert. Ein kurdischer Staat in Syrien wäre für die Türkei gleichsam bedrohlich, folglich ein stabiler Irak in der Region überaus wichtig.
"Obwohl im Norden des Irak türkische Truppen stehen, nähern sich Ankara und Bagdad derzeit wieder an", berichtet der Orientexperte.
Kurden kämpfen seit über 100 Jahren für eigenen Staat
Für die Kurden würde mit einem unabhängigen Kurdistan ein lang gehegter Wunsch in Erfüllung gehen - und auch eine historische Zusage, die nicht eingehalten worden war.
Nach dem Ersten Weltkrieg war den Kurden von den Siegermächten Autonomie versprochen worden, doch dazu kam es nicht. Die Folge waren mehrere Aufstände, die von den Türken niedergeschlagen wurden.
Und auch in den anderen Regionen, die mit dem aktuellen Referendum wieder in den Fokus rücken, wurden kurdische Unabhängigkeitsbestrebungen konsequent eingedämmt.
Im Iran entstand nach dem Zweiten Weltkrieg eine kurdische Republik, die jedoch von den Persern erobert wurde. Im Irak hingegen genießen die Kurden seit über zehn Jahren Autonomie - nun wollen sie ihren eigenen Staat.
Es wäre der nächste Schritt auf dem Weg hin zur völligen Unabhängigkeit. Doch dieser Weg ist nicht nur steinig - es bläst auch ein gefährlicher Gegenwind.
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