In Syrien und im Irak verliert die Terrormiliz "Islamischer Staat" an Boden. Die Anschlagsgefahr in Europa und anderswo auf der Welt verringert sich dadurch aber erst mal nicht, sondern scheint sich sogar noch zu erhöhen. Steckt dahinter eine neue Strategie? Terrorismus-Experten analysieren die aktuelle Situation und die Terrorgefahr in Deutschland.
Einiges scheint darauf hinzudeuten, dass der IS mit Terroraktionen außerhalb seinen Kampfgebietes im Nahen Osten einen neuen Schwerpunkt setzt: Die Anschläge von Paris und Brüssel, die Attentate in Pakistan und in der Türkei.
Europa als neue Front des Terrors?
Und auch die jüngsten Festnahmen von Terrorverdächtigen in Düsseldorf, die 2014 von der Führungsebene des IS den Auftrag bekommen haben sollen, mit Sprengsätzen und Schusswaffen möglichst viele Menschen in der Düsseldorfer Altstadt zu töten.
Zuletzt gab es Vermutungen, der sogenannte "Islamische Staat" (IS) rücke zur Kompensation seines Bedeutungsverlustes im Nahen Osten nun Europa ins Visier seines Terrors.
Die geheime IS-Spezialeinheit "Externe Operationen" unter der Führung des IS-Propaganda-Chefs Abu Muhammad al-Adnani soll ausdrücklich für die Rekrutierung von Attentätern und der Planung von Anschlägen in Europa ins Leben gerufen worden sein.
Allein in den vergangenen sechs Monaten habe der IS Attentate in elf Ländern verübt, bei denen mehr als 500 Menschen starben, sagt der Nahost-Experte Günter Meyer. "Offensichtlich" sei das "eine Strategie, die der IS nun verfolgt, um - gerade durch zivile Opfer - weiter auf sich aufmerksam zu machen."
Die Terrormiliz hat in den vergangenen Monaten rund 45 Prozent ihrer Gebiete im Irak verloren und mehr als 20 Prozent in Syrien. Er finde es deshalb "naheliegend, dass der IS sich zunehmend auf Anschläge außerhalb Syriens und des Irak konzentriert", so der Leiter des Zentrums für Forschung zur Arabischen Welt an der Universität Mainz im Gespräch mit unserer Redaktion.
"Anschläge im Ausland von Anfang an ein wichtiges Mittel des IS"
Für den Friedensforscher Jochen Hippler ist ein Zusammenhang zwischen den militärischen Niederlagen des IS und der Zahl der Anschläge im Ausland indes "nur schwer zu erkennen".
Gegen eine Verlagerung des Terrors spreche etwa, dass einige der nun in Düsseldorf gefassten Verdächtigen offenbar bereits im Frühjahr 2014 nach Deutschland geschickt wurden - also auf dem Höhepunkt der Stärke des IS.
"Die Anschläge im Ausland sind schon lange Teil der Politik des IS", so der Politikwissenschaftler von der Universität Duisburg-Essen im Gespräch mit unserer Redaktion. Sie seien von Anfang an ein wichtiges Mittel gewesen, um ausländische Mitstreiter zu werben, die mehr als die Hälfte der IS-Kämpfer stellen.
"Sie werden nicht angelockt, weil der IS in Syrien eine tolle Arbeit macht, sondern durch spektakuläre Anschläge, die gerade jungen Menschen mit einer gebrochenen Biographie Identifikationsmöglichkeiten geben", sagt Hippler.
Bislang keine Terroranschläge in Deutschland
Dass es in Deutschland bisher noch keinen Anschlag gegeben hat, führen die Experten auf Glück, aber auch auf eine gute Arbeit der Sicherheitskräfte zurück.
Diese arbeiteten mittlerweile effektiver und international besser zusammen. "Allerdings ist es auch so, dass Deutschland nicht in der ersten Reihe der internationalen Ziele steht", sagt Jochen Hippler. In einigen Fällen seien die Attentäter bei den Planungen auch schlicht zu unprofessionell vorgegangen.
Dennoch: Die Anschlagsgefahr ist nach wie vor auch hierzulande groß. "Alle Sicherheitskräfte weisen darauf hin, dass es hier ein sehr hohes Gefährdungspotenzial gibt", sagt Günter Meyer.
Man wisse weder, wie viele Schläferzellen es in Deutschland gebe, noch wie viele IS-Kämpfer gezielt über Flüchtlingsrouten hierher geschickt worden seien. Es müsse damit gerechnet werden, dass es jederzeit zu einem Anschlag kommen könne.
Sieg gegen IS noch in weiter Ferne
Und diese Gefahr besteht wohl noch für eine recht lange Zeit. Zwar rechnen viele Experten damit, dass der IS über kurz oder lang den gegen sie gerichteten Bündnissen - die Kurden, die "Syrischen Demokratischen Kräfte" und die USA sowie Syriens Armee und Russland - unterlegen sein wird.
Nahost-Experte Meyer glaubt aber, dass es unter Umständen noch sehr lange dauern könnte, bis es so weit ist. "Die Rückeroberungen von Mossul und Falludscha sind schon am Anfang ins Stocken geraten - auch weil der IS zunehmend die Zivilbevölkerung als Schutzschild einsetzt."
Aus Jochen Hipplers Sicht wird viel davon abhängen, wie viel Unterstützung der IS von den Menschen im Irak und Syrien in Zukunft noch hat. "Gelingt es dem IS, die Bevölkerung in den sunnitischen Landesteilen hinter sich zu bringen und sie auch dort zu halten, wäre er selbst durch Luftangriffe nicht zu schlagen."
Gelingt ihm das nicht, sei es nur noch eine Frage der Zeit, bis er zerschlagen werde. Erst dann werde auch die Anschlagsgefahr in Europa sinken, glaubt Hippler.
"Der Erfolg des IS ist ein Motivationselement für Attentäter in Europa, Anschläge zu verüben. Wenn das Modell IS scheitert, wird das sicher eher dämpfend wirken."
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