Wolfsburg, Berlin, Bremen – an Hochburgen für radikale Islamisten mangelt es in Deutschland nicht. Wo sind sie stark vertreten, wie kommt es überhaupt zur Radikalisierung und wie kann dem vorgebeugt werden? Ein Überblick.
Seit Montag läuft vor dem Oberlandesgericht in Celle ein Prozess der gleich doppelt für Aufsehen sorgt: Erstens, weil hier zwei mutmaßliche Kämpfer des Islamischen Staats (IS) angeklagt sind – und zweitens, weil die Heimkehrer aus Syrien und Irak betonen, dem IS inzwischen abgeschworen zu haben. Ebrahim H. B. und Ayoub B. heißen sie, ihnen wird unter anderem die Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung vorgeworfen.
Wie die beiden jungen Männer (26 und 27 Jahre alt) sind laut deutschen Sicherheitsbehörden inzwischen etwa 720 Islamisten nach Syrien und in den Irak ausgereist. "Das ist das Hellfeld, die Dunkelziffer kennen wir nicht, wir müssen davon ausgehen, dass es noch mehr sind", erklärte dieser Tage der Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz,
Aber woher aber kommen diese Männer? Und wie läuft die Radikalisierung ab? Eine Auswahl deutscher Städte.
Wolfsburg
Ebrahim H. B. und Ayoub B. hatten sich in Wolfsburg radikalisiert – und das ist kein Zufall. Schon vor Monaten enthüllten Recherchen mehrerer Medien, dass radikale Salafisten dort in den vergangenen Jahren wenig fürchten mussten: 2013 und 2014 sei kein einziger Antrag auf Passentzug gestellt worden. So konnten mindestens 15 Islamisten nach Syrien und in den Irak reisen. Drei von ihnen sollen inzwischen gestorben sein, einer davon bei einem Selbstmordattentat. Verantwortlich für all das soll ein IS-Rekrutierer sein, der im Januar 2011 aus Tunesien kam. Neben Wolfsburg gelten in Niedersachsen vor allem Hannover, Hildesheim und die Region Braunschweig als Brennpunkte der islamistischen Szene.
Dinslaken
Dass sich radikale Kräfte nicht nur in Großstädten sammeln, zeigt das Beispiel von Dinslaken in Nordrhein-Westfalen mit rund 70.000 Einwohnern. Dort ist vor allem ein Begriff unweigerlich mit Islamisten verknüpft: die "Lohberger Brigade", benannt nach einem Stadtteil. 2011 gründeten rund zwei Duzend Männer hier eine Salafistenzelle, mehr als 20 sind in den vergangenen Jahren in den Dschihad gereist. Mindestens fünf von ihnen sollen inzwischen ums Leben gekommen sein. Andere sind wieder zurückgekehrt: Erst im Januar verhaftete die Polizei einen 24-jährigen Heimkehrer. Dinslaken ist dabei nur ein Beispiel in NRW. Der Verfassungsschutz geht davon aus, dass in dem Bundesland allein 2100 der 7500 Salafisten aus Deutschland leben. Auch Bonn steht im Fokus radikaler Kräfte: 2012 etwa wollte ein Islamist auf dem Bonner Hauptbahnhof einen Sprengsatz zünden, den die Polizei jedoch noch rechtzeitig entschärfen konnte.
Berlin
Von den bundesweit 720 Ausgereisten sollen allein mehr als 90 aus der Hauptstadt kommen. Schon vor Jahren hatte eine Gruppe von Berliner Islamisten die "Deutsche Taliban Mudschahidin" im pakistanisch-afghanischen Grenzgebiet gegründet. Insgesamt beobachtet der Verfassungsschutz derzeit rund 620 Salafisten in Berlin. Von hier stammt ursprünglich auch der bekannte Dschihadist Denis Cuspert, der früher einmal als Rapper Deso Dogg auftrat und heute IS-Propaganda dreht. Auffällig ist bei den Ausgereisten: Fast ein Drittel von ihnen hat keinen Schulabschluss, zwei allerdings auch ein Studium.
Bremen
Laut Innensenator Ulrich Mäurer (SPD) wurden in Bremen zuletzt rund 360 Salafisten beobachtet. Auch aus der Hansestadt seien mittlerweile mindestens 19 Islamisten nach Syrien oder in den Irak gezogen – und einige wieder nach Hause gekommen. Fast alle von ihnen scheinen sich über den Kultur- und Familienverein (KuF) im Bremer Stadtteil Gröpelingen radikalisiert zu haben. In einer Moschee des Vereins soll eine besonders extreme Form des Salafismus gepredigt worden sein, der etwa den bewaffneten Kampf in Syrien verherrlicht. Seit Dezember 2014 ist der KuF deshalb verboten.
Radikalisierung dauert meist ein bis drei Jahre
Die Liste ließe sich fortsetzen, denn es gibt kein Muster für Orte, an denen vermehrt radikale Tendenzen zu erkennen sind, erklärt Michael Kiefer – sowohl Großstädte als auch der ländliche Raum seien betroffen. Kiefer ist Islamwissenschaftler und Autor, von ihm stammt unter anderem ein Buch über Salafismus. Im Gespräch mit unserem Portal sagt er: "Für Radikalisierung gibt es nie nur eine Ursache, es müssen immer mehrere Faktoren zusammenkommen."
Es sind die bekannten Faktoren, die vor allem junge Menschen zwischen 15 und 30 Jahren treffen: keine Perspektive, prekäre Lebensverhältnisse, schlechte Ausbildung. Doch genau wie in Berlin verfallen auch immer wieder Abiturienten oder Akademiker extremen Ideologien. "Radikalisierung findet nicht blitzartig über Nacht statt, sondern dauert etwa ein bis drei Jahre. Sie fängt oft völlig unauffällig an, etwa wenn Menschen langsam ihre Einstellung ändern. Irgendwann treten sie formal zum Islam über, kleiden sich anders, wenden sich von ihrem alten sozial Umfeld ab und neuen Freunden zu", sagt Kiefer.
Nur wer genau hinsieht, entdeckt radikale Tendenzen früh genug
Doch das allein reicht noch nicht. "Wichtig ist vor allem: Mit wem kommen junge Leute in diese Phase in Kontakt. Denn oft sind es Agitatoren und radikaler Prediger, die die entscheidenden Impulse geben." Über die Anwerber entstehen weitere Kontakte nach Syrien oder in den Irak, Kiefer spricht von einer "Logistikindustrie". Dabei betont er, dass dieser Neo-Salafismus nicht nur ein Problem des Islams sei – sondern der ganzen Gesellschaft, wie sich am Beispiel der zahlreichen Konvertiten zeige. Kiefer schätzt, dass mindestens 20 Prozent der Ausgereisten vorher zum Islam übertraten.
Verhindert werden könne das nur, indem man rechtzeitig vorbeuge: "Für effektive Prävention ist ein sehr hohes Maß an Achtsamkeit notwendig – und das müssen alle gemeinsam aufbringen: Eltern, Lehrer, Sozialarbeiter. Wenn man etwas bemerkt ist es wichtig, Probleme zu thematisiert und früh Beratung in Anspruch zu nehmen." Aber es braucht noch mehr: "Genauso muss man jungen Menschen aber auch eine Perspektive bieten, ihnen die gleichen Chancen in der Ausbildung geben, sie fördern."
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