Die italienische Regierung spielt mit dem Gedanken, zurück zur Atomkraft zu gehen – trotz des Widerstands vieler Wissenschaftler und der eigenen Bevölkerung.
Fast 40 Jahre nach einem wegweisenden Referendum, bei dem die Italiener der Atomkraft den Rücken kehrten, strebt die Regierung in Rom eine nukleare Renaissance an. Die Rechtsaußen-Regierung von Ministerpräsidentin
Italien will Mini-Atomkraftwerke bauen
Bis zum kommenden Jahr will Energieminister Gilberto Pichetto Fratin einen detaillierten Plan für die Rückkehr zur Atomenergie ausarbeiten. Durch moderne Atomkraftwerke in Kombination mit erneuerbaren Energien könne Italien in die Lage versetzt werden, seine Klimaziele zu erreichen, sagt der Minister. Zugleich könne Italien damit "volle und umfassende Energiesicherheit" erlangen.
Zwischen 2027 und 2029 will sein Ministerium jährlich 20 Millionen Euro in die Atomkraft investieren. Dabei sollen Gespräche zur Gründung eines staatlich unterstützten Unternehmens geführt werden, das sogenannte Mini-Atomkraftwerke (Small Modular Reactors – SMRs) herstellen soll.
SMRs erzeugen nur einen Bruchteil der Energie eines traditionellen Kraftwerks. Sie sind aber deutlich kleiner als normale Reaktoren und so konzipiert, dass sie in einer Fabrik gefertigt werden können. Viele setzen heute auf diese Technologie, auch wenn sie noch nicht ausgereift ist. Einige Unternehmen haben sich aber bereits aus der Entwicklung der SMRs zurückgezogen. Darüber hinaus hofft die italienische Regierung auch auf Kernfusion, die allerdings ebenfalls eine Wette auf die Zukunft bedeutet. Zumindest ist in den nächsten Jahrzehnten nicht damit zu rechnen, dass die Technologie tatsächlich bezahlbaren Strom liefern, geschweige den, ihn überhaupt erzeugen kann.
Die Energieberaterin Simona Benedettini begrüßt es, dass die Regierung nun das "Tabu" um die Atomenergie in Italien gebrochen habe. Italien verfüge nach wie vor über erstklassige Wissenschaftler in dem Bereich, die einen solchen Wandel in der Energiepolitik unterstützen könnten, sagt sie.
Kritiker sprechen von Greenwashing und von gezielter Verzögerung beim Ausbau erneuerbarer Energien
Kritiker weisen darauf hin, dass die Energiegewinnung mit Atomkraftwerken wesentlich teurer sei als andere Energieformen mit niedrigem CO₂-Ausstoß. Zudem würde der Bau neuer Kraftwerke viele Jahre dauern. In Frankreich etwa hatte der Neubau eines modernen EPR-Atomreaktors in Flamanville mit 17 Jahren Bauzeit zwölf Jahre Verspätung. Der Bau des Reaktors kostete viermal so viel wie geplant.
Die Energieexpertin des Klima-Thinktanks Ember, Beatrice Petrovich, hält eine Fokussierung auf Atomenergie für kontraproduktiv. Besser wäre es aus ihrer Sicht, sich auf erneuerbare Energien zu konzentrieren. Denn das Ziel der Energiesicherheit und einer größeren Unabhängigkeit von ausländischen Rohstoffen, etwa Gas, sei mit Atomkraft nicht automatisch erreicht: Vielmehr würde die Atomkraft "eine zusätzliche Abhängigkeit" bedeuten, sagt Petrovich mit Blick auf den dann anfallenden Bedarf an Uran. Eine solche Abhängigkeit könne ein geopolitisches Risiko bergen.
Der Chef des Klima-Thinktanks Ecco, Luca Bergamaschi, vermutet hinter den Atom-Überlegungen der Regierung den Versuch, den Ausbau erneuerbarer Energien in Italien zu verlangsamen. Die Verantwortlichen könnten sich so als Klimaschützer inszenieren und gleichzeitig an fossilen Brennstoffen festhalten, sagt Bergamaschi. "In Italien bedeutet Atomenergie praktisch Greenwashing."
Die Bevölkerung ist gegen neue Atomkraftwerke
Fraglich ist auch, ob die Italiener von den Plänen ihrer Regierung überzeugt werden könnten. Ursprünglich gehörte das Land zu den Akw-Pionieren. Nach der Atomkatastrophe von Tschernobyl 1986 kippte jedoch die Stimmung. Ein Referendum brachte das Ende der vier Atomkraftwerke im Land, die letzten schlossen 1990, bis heute läuft ihr Rückbau. Atommüll-Endlager gibt es in Italien nicht, an 50 möglichen Standorten war der Widerstand dafür zu groß.
Nach der Atomkatastrophe im japanischen Fukushima 2011 sprach sich die Bevölkerung in einem Referendum erneut gegen eine Rückkehr zur Atomkraft aus. In einer Umfrage vom November äußerten vier von fünf Italienern ihre Ablehnung.
Bergamaschi glaubt, dass es mindestens zehn Jahre dauern würde, bis überhaupt wieder Atomstrom in Italien produziert werden könnte. Zugleich hält er die technischen, rechtlichen und politischen Hürden für eine Atom-Renaissance für viel zu hoch: "Es wird wahrscheinlich nie so weit kommen." (afp/bearbeitet von the)