• In Berlin könnten bald wieder 3.000 bis 10.000 geflüchtete Ukrainer pro Tag ankommen, schätzt Sozialsenatorin Katja Kipping.
  • Im Interview mit unserer Redaktion fordert die Linken-Politikerin die Bundesregierung auf, mehr große Immobilien für die Unterbringung zur Verfügung zu stellen.
  • Das bisherige Angebot sei "eher eine PR-Nummer", meint Kipping.
Ein Interview

Frau Kipping, in den vergangenen Monaten sind immer mehr Geflüchtete nach Deutschland gekommen. Es werden Vergleiche zur großen Fluchtbewegung 2015 und 2016 gezogen. Schaffen wir das – auch in diesem Jahr?

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Katja Kipping: Ich stelle mir die Frage immer etwas anders: Was müssen wir tun, damit wir es schaffen? Da steht einiges vor uns. Es wird auf jeden Fall nicht leicht. Aber das Richtige muss man auch dann machen, wenn es schwer ist.

Was müsste denn passieren, damit Deutschland auch diese Fluchtbewegung meistert?

Wir bräuchten in Berlin als Erstes große Immobilien des Bundes, die kurzfristig beziehbar sind und in denen man die Belegung sehr schnell erhöhen könnte: von Hunderten in die Tausende. Zweitens brauchen wir eine Lockerung der Wohnsitzauflage. Viele Menschen sind in großen Städten mit angespannten Wohnungsmärkten wie zum Beispiel Berlin angemeldet. Sie hätten in anderen Städten mit großem Leerstand einen Vermieter, der sie gerne zu angemessenen Preisen aufnehmen würde. Wer aber einmal in einer Stadt angemeldet und auf Sozialleistungen angewiesen ist, kann nicht einfach umziehen. Hier wäre eine Lockerung für Wechsel aus Regionen mit angespanntem Wohnungsmarkt in Regionen mit Leerstand nötig.

Und drittens?

Im Ukraine-Ankunftszentrum hier in Berlin auf dem ehemaligen Flughafen Tegel beginnt jetzt der Umzug ins Terminal C, das winterfest ist. Wir brauchen aber auch die Terminals A und B als Reserve. Wir müssen jederzeit damit rechnen, dass die Zahl der Ankünfte aus der Ukraine sprunghaft in die Tausende pro Tag steigt. Momentan ist sie konstant. Jetzt gibt es aber die russischen Angriffe auf die Infrastruktur. Wenn dann noch im Winter der Frost kommt, können wir nicht ausschließen, dass es wieder Ankunftszahlen wie im Frühjahr zu Kriegsbeginn gibt.

Auf welche Zahl stellen Sie sich ein?

Zurzeit kommen in Berlin pro Tag 300 bis 500 Menschen alleine aus der Ukraine an. Diese Zahl könnte in kürzester Zeit auf 3.000 bis 10.000 pro Tag steigen. Wir stellen uns darauf ein, dass wir uns auf alles einstellen müssen. Es gibt schon jetzt einen enormen Anstieg bei den Asylsuchenden aus anderen Ländern. Da deutet sich zurzeit wirklich ein exponentielles Wachstum an. Wir stehen vor enormen Herausforderungen.

"Bisher ist das groß angekündigte Angebot des Bundes eher eine PR-Nummer"

Die Bundesregierung hat angekündigt, eigene Immobilien für die Unterbringung von Geflüchteten bereitzustellen. Hat Ihnen das nicht geholfen?

Wir haben zunächst nur über die Medien davon gehört und natürlich sofort nachgefragt. Es geht hier in Berlin um drei Angebote. Eines wird schon von uns gemietet und ist momentan voll ausgelastet. Das zweite ist eine leer stehende Fläche. Da werden wir vielleicht demnächst Container aufstellen, aber da ist noch überhaupt nichts vorhanden. Der limitierende Faktor sind derzeit Dusch-Container, von denen es zu wenig gibt. Im dritten Gebäude sind möglicherweise 100 Plätze zu schaffen. Bisher ist das groß angekündigte Angebot des Bundes eher eine PR-Nummer, die in Berlin nur wenig hilft. Die wirklich interessanten, kurzfristig beziehbaren und aktuell ungenutzten Gebäude des Bundes sind nicht dabei.

Deutschland erlebt 2022 einen Zustrom an Flüchtlingen, der die Bilanzen der Vorjahre übertrifft.

Steigende Flüchtlingszahlen: Deutsche Städte kommen an ihre Grenzen

Die Zahlen der nach Deutschland geflohenen Menschen sind im Jahr 2022 so hoch wie seit Jahren nicht mehr. Viele Städte schlagen Alarm, weil für viele Flüchtlinge schon vor Anbruch des Winters kein Platz mehr zur Verfügung steht.

Berlin bittet den Bund um Hilfe – aber diese Rufe kommen aus anderen Ländern ja genauso.

Wir haben mit dem Ukraine-Ankunftszentrum Tegel ein bundesweites Drehkreuz, eine erste Anlaufstelle geschaffen. Die Menschen kommen zu jeder Tages- und Nachtzeit, erhalten ein Essen und medizinische Versorgung. Darüber hinaus gibt es immer wieder Evakuierungen von schwer pflegebedürftigen Menschen. Auch da übernimmt das Land Berlin die Koordinierung. Für dieses bundesweite Drehkreuz müssen wir Betten vorhalten. Für das Jahr 2023 gibt es bisher keinen einzigen Euro Zusage vom Bund. Berlin geht hier in Vorleistung für die gesamte Bundesrepublik.

Die Regierende Bürgermeisterin Franziska Giffey hat gerade gesagt, dass die Kapazitäten in der Hauptstadt ausgeschöpft sind.

Ich sage immer: Es ist unsere Pflicht und Schuldigkeit, alles irgendwie Mögliche zu tun, um Plätze zu schaffen. Es wird aber immer schwieriger, weil wir kaum noch Puffer haben.

"Wir merken, dass von interessierten Kreisen Stimmung gemacht wird"

Im Frühjahr war die Hilfsbereitschaft sehr groß. Inzwischen klagen Länder und Kommunen über eine Überlastung. Viele Menschen in Deutschland machen sich wegen der Energiepreise auch Sorgen um die eigene wirtschaftliche Situation. Jetzt gab es in Mecklenburg-Vorpommern einen Anschlag auf eine Unterkunft. Besteht die Gefahr, dass die Stimmung gegenüber den Geflüchteten aus der Ukraine kippt?

Der Einsatz der Zivilgesellschaft und von freiwilligen Helfern ist immer noch beeindruckend und nötigt mir den höchsten Respekt ab. Gleichwohl merken wir, dass von interessierten Kreisen Stimmung gemacht wird. Wenn der CDU-Vorsitzende Friedrich Merz Menschen aus der Ukraine als Sozialtouristen beschimpft, dann hinterlässt das Spuren.

Inwiefern?

Privat wurde an mich die Situation einer Mutter herangetragen. Sie ist mit ihrer Tochter nach Deutschland geflohen, um das Kind in Sicherheit zu bringen. Ihre alte Mutter ist aber in der Ukraine geblieben, weil die sich nicht vorstellen kann, die Heimat zu verlassen. Jetzt ist sie schwer krank und eine Operation steht an. Diese Frau ist jetzt hin- und hergerissen zwischen dem Wunsch, ihr Kind hier zu schützen und zugleich ihrer todkranken Mutter in den letzten Tagen in der Ukraine beizustehen. Neben all diesen Sorgen muss sie sich jetzt noch als Sozialtouristin bezeichnen lassen. Das schlägt dem Fass den Boden aus.

Menschen aus der Ukraine können in Deutschland inzwischen Sozialleistungen beziehen. Sie haben im Gegensatz zu Asylbewerbern aber auch die Möglichkeit, sofort zu arbeiten. Wie weit klappt das schon in Berlin?

Ich finde diese erleichterten Regeln sehr gut. Wir sollten dafür sorgen, dass sie in Zukunft auch für Geflüchtete aus anderen Ländern gelten. Ich höre aus den Jobcentern, dass es sich bei den Menschen aus der Ukraine um sehr interessierte Menschen handelt. Sie sind sehr darauf aus, einen Deutschkurs zu machen und eine Stelle zu bekommen. Das Problem ist, dass rund 90 Prozent der Ukraine-Geflüchteten, die in die Jobcenter kommen, nur Ukrainisch und/oder Russisch sprechen. Für sie steht der Spracherwerb an erster Stelle. Wer Deutsch oder Englisch spricht, hat nicht selten schon direkt den Weg zu den Firmen gemacht, unter anderem auf einer tollen Jobmesse der Industrie- und Handelskammer.

Zur Person: Katja Kipping wurde 1978 in Dresden geboren, wo sie Abitur machte und Slawistik, Amerikanistik und Rechtswissenschaft studierte. Sie war Stadträtin, Landtags- und Bundestagsabgeordnete und 2012 bis 2021 Co-Bundesvorsitzende der Linken. Im Dezember 2021 wechselte Kipping als Senatorin für Integration, Arbeit und Soziales in die Berliner Landespolitik.
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