- Der Koalitionsvertrag ist fertig: SPD, Grünen und FDP werden Deutschland wohl künftig regieren.
- Die drei Parteien stellten am Mittwoch ihr Programm für die kommenden gemeinsamen vier Jahre vor.
- Wir haben uns das Papier angeschaut und geben einen Überblick.
Zum ersten Mal seit den 1950er Jahren wird Deutschland wieder von drei Parteien regiert. SPD, Grüne und FDP haben sich nach wochenlangen Verhandlungen geeinigt: "Die Ampel steht", sagte der designierte Bundeskanzler
Zusammen mit den Spitzen der drei Parteien –
Was sind die größten Überraschungen?
Das ist die neue Bundesregierung selbst. Trotz "fundamentaler Unterschiede", wie es etwa FDP-Chef Lindner in einem Interview mit unserer Redaktion vor der Bundestagswahl nannte, wollen nun Sozialdemokraten, Grüne und Freie Demokraten miteinander das Land führen. Bemerkenswert ist auch, dass die Parteien ihren strikten Zeitplan eingehalten haben: Am Ende werden es etwas mehr als 70 Tage vom Wahlsonntag bis zur Vereidigung des Kabinetts sein – deutlicher schneller als bei der Großen Koalition 2017/18 (172 Tage) und 2013 (86 Tage).
Inhaltlich überraschend ist die Besetzung des Verkehrsministeriums mit einem FDP-Vertreter. Bis zuletzt gingen Beobachter davon aus, dass die Grünen das Ressort für sich beanspruchen, um im Zusammenspiel mit dem neuen Superministerium für Wirtschaft und Klimaschutz eine allumfassende und klimagerechte Verkehrswende einleiten zu können.
Wo will die Ampel besondere Akzente setzen?
Der Koalitionsvertrag verbreitet vor allem gesellschaftspolitisch frischen Wind. Was progressive Kräfte und ein großer Teil der Bevölkerung bereits seit Jahren forderten, Union und SPD aber bis zuletzt verhinderten, soll nun kommen: Streichung des Abtreibungsparagrafen 219a StGB, Abschaffung des Transsexuellengesetzes sowie des Blutspendeverbots für homosexuelle Männer. Dazu soll Cannabis legalisiert sowie Wählen und den Führerschein machen bereits mit 16 Jahren (begleitetes Fahren) möglich werden.
Außerdem sollen Bürgerinnen und Bürger mehrere Staatsbürgerschaften haben können und der Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit soll vereinfacht werden. Die Hürden für Einbürgerungen und eine Niederlassungserlaubnis werden ebenso gesenkt. "Uns verbindet das Verständnis von Deutschland als vielfältige Einwanderungsgesellschaft", heißt es in dem Leitpapier der Ampel-Parteien.
Wie SPD, Grüne und FDP die großen Herausforderungen der Zeit angehen wollen
1. Coronakrise
Rot-Grün-Gelb sieht es als "vordringlichste Aufgabe" die Corona-Pandemie "zu besiegen", unter anderem mit einem "umfassenden Impfschutz". Von einer Impfpflicht – für alle Menschen im Land oder auch nur für einzelne Berufsgruppen – ist in dem Dokument keine Rede. Scholz drängte jedoch bei der Vorstellung des Koalitionsvertrags darauf, eine solche Verpflichtung für Mitarbeiter in Einrichtungen für besonders gefährdete Risikogruppen einzuführen.
Das Krisenmanagement der Bundesregierung zur Bekämpfung der Corona-Pandemie soll "unverzüglich" neu aufgestellt werden, explizit erwähnt werden ein gemeinsamer Krisenstab sowie ein beim Bundesgesundheitsministerium angesiedelter "interdisziplinär besetzter wissenschaftlicher Pandemierat". Als Bonus für Pflegekräfte stellt die Bundesregierung eine Milliarde Euro bereit.
Die weitreichenden wirtschaftlichen Folgen der Coronakrise wollen SPD, Grüne und FDP mit weiteren Investitionen abfedern. Um diese zu finanzieren, setzen die Parteien die Schuldenbremse weiterhin aus, allerdings nur für das kommende Jahr. Fortgeführt wird die Neustarthilfe für Soloselbständige im Rahmen der Überbrückungshilfe III Plus. Die Rückzahlregeln der Corona-Hilfen will die Ampel-Regierung "prüfen".
2. Klimawandel im Koalitionsvertrag
"Die Klimaschutzziele von Paris zu erreichen, hat für uns oberste Priorität", betont das Dreierbündnis. Die künftige Bundesregierung will für das 1,5-Grad-Ziel keine Stichtage vorgeben, die für die Einhaltung dennoch nötigen Endzeitpunkte will sie automatisch mit Maßnahmen und durch das Einleiten eine "Jahrzehnts der Zukunftsinvestitionen" erreichen.
Dazu gehören zum Beispiel der Ausbau der Erneuerbaren Energien (ihr Anteil soll im Jahr 2030 80 Prozent betragen) und von Ladesäulen für E-Autos (das Ziel: 15 Millionen vollelektrische Pkw in Deutschland bis 2030), ein Mindestpreis für CO2-Zertifikate in Höhe von 60 Euro pro Tonne und die bevorzugte Förderung der Schiene vor der Straße (der Anteil des Schienengüterverkehrs soll bis 2030 auf 25 Prozent steigen, die Leistung des Personenverkehrs mit der Bahn sich verdoppeln).
Die drei Parteien gehen davon aus, dass durch ihr Vorgehen das fossile Zeitalter und die Technologie des Verbrennermotors schrittweise beendet sowie der Kohleausstieg "idealerweise auf 2030" vorgezogen werden können. Das übergeordnete Ziel: Die soziale Marktwirtschaft verwandelt sich in eine "sozial-ökologische Marktwirtschaft". Kurzum: Die grünen Linien sind beim Kernthema der Ökopartei zwar erkennbar, diese werden aber deutlich überdeckt von gelben Strichen.
3. Was plant die Ampel für Migrations- und Integrationspolitik?
Einen "Neuanfang" verspricht die Ampel in der Migrations- und Integrationspolitik. Hier wird sie sich in der Tat von den unionsgeführten Bundesregierungen der vergangenen Jahre absetzen. Es soll mehr Möglichkeiten geben, dass Menschen aus anderen Ländern auf legalem Wege nach Deutschland kommen – und auch bleiben dürfen.
Hier scheint die Handschrift der Grünen durch: "Die Aufnahmebereitschaft in Deutschland und der EU wollen wir stützen und fördern", heißt es. Die europäische Grenzschutzagentur Frontex soll sich nach dem Willen der Ampel auch in der Seenotrettung engagieren. Das wäre in der Tat ein Bruch mit der bisherigen Linie der deutschen Bundesregierung. Doch alleine wird die neue Koalition das nicht durchsetzen können. Davon müsste sie erst die anderen EU-Staaten überzeugen.
Statt sich von einer Duldung zur nächsten zu hangeln, sollen Asylbewerber Aussicht auf ein "Chancen-Aufenthaltsrecht" bekommen: Menschen, die seit fünf Jahren in Deutschland leben, nicht straffällig geworden sind und sich zur freiheitlich-demokratischen Grundordnung bekennen, sollen eine einjährige Aufenthaltserlaubnis auf Probe erhalten können. In dieser Zeit können sie Voraussetzungen erfüllen, um dauerhaft in Deutschland bleiben zu können.
4. Bauen und Wohnen
Vor allem in den deutschen Millionen- und Universitätsstädten sind die Mieten in den vergangenen Jahren stark gestiegen. Der Koalitionsvertrag verspricht einen besseren Schutz der Mieterinnen und Mieter. Wichtig ist in diesem Zusammenhang die sogenannte Kappungsgrenze: Vermieterinnen und Vermieter dürfen die Miete bisher innerhalb von drei Jahren um höchstens 20 Prozent erhöhen, in 360 Städten und Gemeinden mit besonders angespannten Wohnungsmärkten nur um höchstens 15 Prozent. Dort soll die Kappungsgrenze weiter sinken: auf elf Prozent.
Auch die Mietpreisbremse will die Ampel bis 2029 verlängern. Zudem will sie den Neubau von 400.000 Wohnungen, davon 100.000 Sozialwohnungen, auf den Weg bringen. Ob diese Maßnahmen geeignet sind, Druck vom Wohn- und Mietmarkt zu nehmen, wird sich erst zeigen. Klar ist jedenfalls, dass eine Person mit SPD-Parteibuch besonders daran gemessen wird: Mit einem neuen Ministerium für Bauen und Wohnen räumt die Ampel dem Thema besondere Bedeutung ein.
5. Digitalisierung
"Mehr Fortschritt wagen" lautet der Titel des Koalitionsvertrags und so steht das Kapitel "Moderner Staat, digitaler Aufbruch und Innovationen" dann auch an erster Stelle.
Der moderne Staat, wie ihn sich SPD, Grüne und FDP vorstellen, soll flächendeckend mit Glasfaser und dem neuesten Mobilfunkstandard versorgt sein, Planungs- und Genehmigungsverfahren sollen in vier Jahren höchstens noch halb so lange dauern wie heute. Was in der Verwaltung digitalisiert und automatisiert werden kann, soll auch digitalisiert und automatisiert werden.
Ein moderner Staat muss aus Sicht der Koalitionäre außerdem transparent sein und die Bürger zur Beteiligung animieren. Wie das aussehen soll? Die Ampel verspricht Bürgerräte zu konkreten Fragestellungen im Bundestag einzusetzen und schon Jugendliche ab 16 Jahren an Wahlen teilnehmen zu lassen.
Wo gibt es Entlastungen?
Der Mindestlohn soll auf 12 Euro steigen, das Rentenniveau stabil bleiben. Auf diese zwei Ziele hatte sich besonders die SPD fokussiert und im Wahlkampf immer wieder versprochen. Auch die Grünen haben ein Prestigeprojekt durchgesetzt: Die Kindergrundsicherung soll Leistungen bündeln und könnte viele Kinder aus der Armut holen – wenn sie richtig umgesetzt wird.
Alleinerziehenden verspricht die Ampel eine Steuergutschrift, Pflegekräfte sollen einen Corona-Bonus bekommen (siehe oben). Die EEG-Umlage für den Ausbau der Erneuerbaren Energien wird nicht mehr Sache der Stromkunden sein. Damit dürfte der Strom – zumindest kurzfristig – billiger werden.
Bei den Steuern bewegt sich aber insgesamt wenig. Erhöhungen hatte die FDP kategorisch ausgeschlossen, größere Entlastungen sind allerdings ebenso wenig absehbar. Eine steuerliche Umverteilung von Reich zu Arm konnten SPD und Grüne nicht durchsetzen.
Was könnte teurer werden?
Ab 2025 soll es keine Förderung für reine Elektrofahrzeuge mehr geben – denn die sollen dann ja Standard sein. Einige Plug-In-Hybrid-Autos könnten schon viel eher teurer (und etliche Dienstwagen nicht mehr steuerbegünstigt) werden. Ab dem 1. Januar 2023 sollen nämlich nur noch Fahrzeuge gefördert werden, "die nachweislich einen positiven Klimaschutzeffekt haben, der nur über einen elektrischen Fahranteil und eine elektrische Mindestreichweite definiert wird".
Teurer könnte zudem das Fliegen werden. Die Ampel will sich dafür einsetzen, dass es europaweit keine Flugtickets zu Dumpingpreisen mehr geben darf. Auch die Luftverkehrsabgabe könnte steigen – wegen der besonderen Belastungen der Pandemie aber wohl erst nach 2023.
Fazit: Welche Partei hat sich wo durchgesetzt – und wo nicht?
Es konnte nur einen geben: FDP-Chef Lindner wird Finanzminister. Das umkämpfte Schlüsselressort geht damit an den kleinsten Partner der drei baldigen Regierungsparteien. Die Grünen, deren Chef
Umgekehrt bekommt aber die Ökopartei ihr Superministerium für Wirtschaft und Klimaschutz, unter Führung von Habeck. Der muss zwar auf das gewünschte Vetorecht verzichten, aber künftig müssen die Gesetzentwürfe aller Ressorts durch einen "Klimacheck". Das heißt, sie werden auf ihre Klimawirkung und die Vereinbarkeit mit den nationalen Klimaschutzzielen geprüft.
Die FDP hatte es in den Verhandlungen und in der öffentlichen Wahrnehmung leicht. Sie kann es als Erfolg verkaufen, dass nun in vielen Bereichen einfach der Status Quo bestehen bleibt (keine Steuererhöhungen, kein Rütteln an der Schuldenbremse, kein Tempolimit). Die SPD wiederum hatte sich vor allem auf zwei Ziele fokussiert: ein Plus beim Mindestlohn und stabile Renten. Beides hat sie bekommen.
Die Grünen sind dagegen mit besonders weitreichenden Plänen und Ambitionen in die Verhandlungen gezogen. Eine "Klimaregierung" soll nun alles dafür tun, den menschengemachten Klimawandel aufzuhalten. Das lässt viel Raum für Enttäuschungen in den kommenden Jahren.
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