Der argentinische Präsident Javier Milei wird für seinen Reformkurs von Anhängern verehrt und von Gegnern gehasst. In Deutschland polarisierte Christian Lindner mit seiner Aussage, man könne von Milei lernen. Hat der FDP-Chef recht?

Eine Analyse
Dieser Text enthält eine Einordnung aktueller Ereignisse, in die neben Daten und Fakten auch die Einschätzungen von Adrian Arab sowie ggf. von Expertinnen oder Experten einfließen. Informieren Sie sich über die verschiedenen journalistischen Textarten.

Die Kettensäge steht seit fast 100 Jahren für deutsche Ingenieurskunst. Im baden-württembergischen Waiblingen entwickelt, vertreibt der deutsche Hersteller Stihl seine motorisierten Geräte zum Stutzen von Hecken, Fällen von Bäumen oder Zuschneiden von Brennholz in die ganze Welt.

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Dass der Kettensäge jüngst besondere Aufmerksamkeit zuteilwurde, liegt aber weniger an einem "Hidden Champion" aus der Provinz: Vielmehr ist aus dem Werkzeug ein von Libertären weltweit gefeiertes Symbol für den zurechtgestutzten Staat geworden.

Populär gemacht hat das Symbol für staatlichen Minimalismus der argentinische Präsident Javier Milei. In seinen Wahlkampfauftritten nutzte der selbsterklärte "Anarchokapitalist" die Kettensäge als Requisite, um seinen radikalen Reformkurs zu illustrieren, der vor allem aus drastischen Kürzungen der Staatsausgaben und dem Abbau von Bürokratie besteht.

In der Öffentlichkeit polarisiert er damit: Rechte und Libertäre wie Donald Trump, Giorgia Meloni oder Elon Musk feiern Milei für seine wirtschaftsliberalen Reformen, während Kritiker – insbesondere aus dem linken politischen Lager – die Kettensäge als Sinnbild einer rücksichtslosen Politik sehen, die vor allem die ärmeren Bevölkerungsschichten und die Mittelschicht trifft.

In Deutschland hat Milei in FDP-Chef Christian Lindner einen prominenten Unterstützer gefunden. Dieser schlug in einer Talkshow im Dezember vor, Deutschland solle ein "kleines bisschen mehr Milei und Musk wagen". Später relativierte Lindner, er sei sich "im Klaren über die Scharfkantigkeit dieser beiden Personen", doch ihn beeindrucke deren "Kraft zur Disruption". Deutschland brauche einen "grundlegenden Wechsel".

Hat Lindner einen Punkt?

Milei regiert ein heruntergerocktes Land

Um das zu bewerten, lohnt sich ein Blick auf die desolate Lage Argentiniens. Als Milei im Dezember 2023 die Regierungsgeschäfte in Buenos Aires übernahm, fand er ein über Jahrzehnte heruntergewirtschaftetes Land hervor. Ein explodierender Staatshaushalt – großzügig finanziert über die Notenpresse – hatte die Inflationsrate auf über 200 Prozent schnellen lassen. Fast jeder zweite Argentinier lebte in Armut. Und durch eine Mischung aus hoher Staatsverschuldung, finanzieller Repression, Zollschranken und Kapitalverkehrskontrollen machten Investoren aus aller Welt seit Jahrzehnten einen großen Bogen um die drittgrößte Volkswirtschaft Lateinamerikas.

War Argentinien dank reichhaltiger Rohstoffe, fruchtbarer Böden und einer gut ausgebildeten Bevölkerung bis zum Zweiten Weltkrieg eines der reichsten Länder dieser Erde, belegt es heute im Index für wirtschaftliche Freiheit des US-Thinktanks "The Heritage Foundation" mit 50 von 100 Punkten den 145. Platz, kurz nach Pakistan und knapp vor Liberia. Milei, daran ließ er im Wahlkampf keinen Zweifel, machte für diesen beispiellosen Abstieg einen aufgeblähten Staatshaushalt und die politischen Eliten vor ihm verantwortlich.

Statt die in Teilen darbende Bevölkerung weiter zu subventionieren – so wie es unter den verschiedenen Militärdiktaturen und linkspopulistischen Regierungen Argentiniens gängige Staatspraxis gewesen war – versuchte es Milei anders: Der Ökonom verordnete dem Staat radikale Zurückhaltung.

Im Eiltempo senkte Milei die Staatsausgaben um 30 Prozent, stoppte Infrastrukturvorhaben und strich rund 30.000 Stellen in der Verwaltung. Energie- und Transportsubventionen wurden reduziert, nachgelagerte Behörden verschmolzen oder gleich ganz abgewickelt. Und soziale Subventionen, etwa auf Strom und Wasser, wurden gekappt und die Pensionen nur noch knapp unter der Inflationsgrenze erhöht.

Erste Erfolge und weitere Belastungen

Inzwischen zeigen die Reformen Erfolge: Die Inflation hat sich auf rund drei Prozent im Monat reduziert und seit Januar erzielt das Land durchgehend Haushaltsüberschüsse. Auch bei den Investoren ist das Vertrauen zurückgekehrt, was sich an einem sinkenden Risikoaufschlag für geliehenes Geld ablesen lässt.

Über den Berg ist Argentinien damit noch nicht. Gerade die ärmsten Schichten leiden unter dem Abbau der sozialen Subventionen. Die Preise für den öffentlichen Verkehr haben sich verzehnfacht, sodass viele Argentinier den täglichen Weg zur Arbeit zu Fuß gehen müssen. Auch die Armutsquote liegt immer noch über dem Niveau von 2023. Und viele Argentinier, die sich das Leben bis dahin nur dank üppiger Subventionen leisten konnten, können es jetzt noch weniger. Ob Mileis Rückenwind anhält und er seinen Reformkurs fortsetzen kann, ist deshalb fraglich.

Nun gehört zur Wahrheit dazu, dass die Preise in Argentinien pro Monat schneller wachsen als in Deutschland in einem ganzen Jahr. Gleichzeitig ist die Lage in Deutschland bei weitem nicht so kritisch, dass die Bevölkerung wie in Argentinien auf informelle Tauschsysteme zurückgreifen müsste, um die Geldwirtschaft zu umgehen. Wie groß das Vertrauen der internationalen Kapitalmärkte in die Bundesrepublik ist, zeigte sich zuletzt während der Corona-Pandemie, als das Land zu günstigen Konditionen neue Schulden aufnehmen konnte. Vor diesem Hintergrund sind direkte Vergleiche zwischen beiden Ländern nur bedingt möglich.

Doch auch Deutschland steckt in einer wirtschaftlichen Misere: Drei Jahre Nullwachstum wie jetzt gab es zuletzt im Zweiten Weltkrieg. Im IWF-Ranking der wohlhabendsten Länder ist Deutschland aus den Top 20 gerutscht. Und angesichts einer schwachen Auslandsnachfrage, hoher Energiekosten und Steuern sowie politischer Unsicherheit ist eine zügige Trendwende nicht in Sicht. Zieht man die brachiale Rhetorik Mileis ab, so lässt sich nach Ansicht von Ökonomen vom argentinischen Weg auch etwas für Deutschland lernen.

Staatliche Eingriffe hemmen das deutsche Wirtschaftswachstum

Da wäre etwa die wachsende Zahl an staatlichen Eingriffen, die der Ökonom Rok Spruk in seiner Studie "The Rise and Fall of Argentina" als eine der Hauptursachen für den Niedergang des Landes identifiziert hat. Auch in Deutschland hat der Einfluss des Staates in den letzten Jahren deutlich zugenommen, erkennbar an den stetig steigenden Staatsausgaben.

Mit einer Staatsquote von mittlerweile 48 Prozent fließt fast jeder zweite Euro durch die Hände des Staates. Das sei ein Problem, erklärt der Wirtschaftswissenschaftler Gunther Schnabl, Professor an der Universität Leipzig. Denn Wirtschaftswachstum entstehe vor allem durch bessere wirtschaftliche Rahmenbedingungen und nicht durch selektive staatliche Eingriffe - wie sich jüngst am Beispiel der milliardenschweren Subventionen für die Chipfertigung von Intel in Magdeburg zeigte.

"Die Dimension des Problems ist in Argentinien größer als in Deutschland, aber das Grundproblem ist ähnlich", sagt Schnabl. Überhöhte staatliche Ausgaben und erdrückende Regulierung erschwerten den wirtschaftlichen Fortschritt. Zusätzliche staatliche Eingriffe verstärkten die Unsicherheit und wirkten negativ auf Investitionen.

Schnabl warnt daher davor, zusätzliche Umverteilungspläne oder neue Regulierungen auf die politische Agenda zu setzen. Unternehmen müssten sich wieder verstärkt auf Effizienzsteigerungen und Innovationen konzentrieren, anstatt auf staatliche Hilfen zu bauen. "Das Wachstum wird gebremst, wenn sich Unternehmen auf direkte und indirekte Staatshilfen verlassen, anstatt auf Innovationen und Effizienzgewinne zu setzen", so Schnabl.

Ein weiteres Lernfeld für Deutschland sieht Experte Schnabl in der Effizienz des öffentlichen Dienstes. In Argentinien war der wirtschaftliche Niedergang eng mit einem Stellenzuwachs im öffentlichen Sektor verknüpft. Diese Stellen wurden häufig nicht nach Qualifikation besetzt, sondern dienten der Versorgung politischer Verbündeter.

Auch in Deutschland steigt die Zahl der Beamten und Angestellten in Ministerien und Behörden rapide an. Laut der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft hat allein die Ampelkoalition 11.500 neue Beamtenstellen geschaffen – ohne dass damit eine spürbare Verbesserung staatlicher Leistungen einherging.

Besonders deutlich wird das Defizit im Bereich der Verwaltungsdigitalisierung: So rangiert Deutschland bei der Abwicklung von Exportgeschäften auf Platz 20 von 21 OECD-Ländern. Die jährlichen Kosten der Bürokratie belaufen sich laut ifo-Institut auf bis zu 146 Milliarden Euro an entgangener Wirtschaftsleistung. Schnabl plädiert für mehr Zurückhaltung: "Mit immer besseren Arbeitsbedingungen im öffentlichen Sektor und einem stetigen Stellenzuwachs lassen sich Sozialleistungen von über 1.200 Milliarden Euro nicht finanzieren."

Ob Deutschland wirklich von Argentinien lernt? Nach Ansicht von Ökonom Schnabl ist das fraglich. Er glaubt, dass der Wille der Bevölkerung, Einschnitte in Kauf zu nehmen, begrenzt sei. "Stattdessen sind die Erwartungen an den Sozialstaat und die Klimapolitik sehr hoch", sagt Schnabl. "Wohlstand wird immer noch als Verteilungsmasse betrachtet."

Über den Gesprächspartner

  • Professor Gunther Schnabl ist ein deutscher Wirtschaftswissenschaftler. Seit November 2024 ist er Direktor des Think Tanks "Flossbach von Storch Research Institute".

Verwendete Quellen

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