Bis spät in die Nacht haben CDU, CSU und SPD um die letzten offenen Streitpunkte gerungen. Heute wird der fertige Koalitionsvertrag in der Bundespressekonferenz vorgestellt. Wer sind die Gewinner und die Verlierer der harten Verhandlungen? Diese Kompromisse wurden zu den bis zuletzt strittigen Themenkomplexen wie Mütterrente oder Mindestlohn gefunden.

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Pkw-Maut: Punktsieg CSU

Die Einführung einer Pkw-Maut wird in den Koalitionsvertrag aufgenommen - aber unter klaren Auflagen und eher als Prüfungsauftrag. Auch wenn nicht sicher ist, ob sie jemals umgesetzt wird, hat sich die CSU hier durchgesetzt. Dem schillernden Wahlsieger Horst Seehofer bleibt zumindest die Peinlichkeit erspart, seinen bayerischen Wählern erklären zu müssen, warum auch in den nächsten Sommern Ausländer unsere Autobahnen kostenlos befahren dürfen. Zum Schluss war dann halt doch die EU schuld. Klarer Verlierer ist die Bundeskanzlerin, die noch im Kanzlerduell mit SPD-Kandidat Peer Steinbrück wörtlich gesagt hatte: "Mit mir wird es keine Pkw-Maut geben". Ihre Glaubwürdigkeit ist wohl dahin.

Mindestlohn: Klarer Sieg für die SPD

Eines der zentralen Wahlkampfanliegen der Sozialdemokraten war ein Mindestlohn. 8,50 Euro lautete hier die magischen Summe, die alle Arbeitnehmer in Deutschland künftig mindestens pro Stunde erhalten sollten. Und genau so kommt es mit kleinen Einschränkungen: Union und SPD vereinbarten, dass der gesetzliche Mindestlohn 2015 kommt. Allerdings können die Tarifpartner in einer Übergangszeit bis 2017 auch Abschlüsse vereinbaren, die darunter liegen. Damit kommt die SPD Union und Wirtschaft entgegen, wenn auch nur ein wenig.

Mütterrente: Unentschieden

Die Union konnte ihr wichtiges Wahlziel Mütterrente durchsetzen, die SPD ihr Anliegen, dass Arbeitnehmer abschlagsfrei in Rente gehen können, wenn sie 45 Beitragsjahre auf dem Buckel haben. Mütter, deren Kinder vor 1992 geboren wurden, erhalten laut dem gefundenen Kompromiss schon ab 2014 mehr Rente. Nach Berechnungen der Union soll dies rund 6,6 Milliarden Euro im Jahr kosten. Ab Juli 2014 sollen Arbeitnehmer, die 45 Jahre in die Rentenversicherung eingezahlt hat, mit 63 abschlagfrei in Rente gehen können. Eingerechnet werden bis zu fünf Jahre Arbeitslosigkeit. Der abschlagsfreie Renteneintritt soll schrittweise auf 65 Jahre steigen. Die Kosten werden wohl bei rund fünf Milliarden im Jahr liegen.

Eine Mindestrente hatten im Wahlkampf sowohl SPD als auch Union in unterschiedlicher Form gefordert. Ab 2017 soll es für langjährige Beitragszahler, die im Niedriglohnsektor gearbeitet haben, eine Solidarrente von 850 Euro im Monat geben. Zudem sind Verbesserungen bei Erwerbsminderungsrenten geplant.

Doppelpass: Punktsieg SPD

Union und SPD haben sich dazu durchgerungen, die Optionspflicht abzuschaffen. Das betrifft vor allem junge Leute mit türkischen Eltern, die sich nun nicht mehr zwischen zwei Pässen entscheiden müssen. Ein generelles Ja zum Doppelpass gibt es aber nicht. Später Zugewanderte werden also nicht automatisch zwei Pässe bekommen. Die SPD hatte neben der Abschaffung der Optionspflicht gefordert, die doppelte Staatsbürgerschaft generell zuzulassen. Die Union hatte sich lange gegen beides gewehrt, ging nun aber bei der Optionspflicht auf die Sozialdemokraten zu.

Steuern und Staatsfinanzen: Punktsieg Union

Auf Steuererhöhungen für neue Projekte will eine mögliche große Koalition verzichten. Damit ist eine der zentralen Wahlkampfaussagen der Union, nämlich die Steuern nicht zu erhöhen, zumindest laut Koalitionsvertrag erfüllt. Von 2015 an sollen darüber hinaus keine neuen Schulden mehr gemacht werden. Union und SPD verständigten sich auf einen leicht erhöhten Finanzrahmen für Zusatzausgaben und Investitionen bis 2017. Für die schwarz-roten Projekte sollen 23 Milliarden Euro ausgegeben werden. Bislang hatte die Union argumentiert, der finanzielle Spielraum ohne höhere Steuern oder Neuschulden betrage lediglich 15 Milliarden. Hier musste die Union der SPD zumindest ein Stück weit entgegen kommen.

Gesundheit: Klarer Sieg für die SPD

Zusatzbeiträge für die Krankenkassen werden in Zukunft abhängig vom Einkommen und nicht mehr pauschal erhoben. Damit wird die soziale Komponente bei der Beitragserhebung gestärkt. Mit dieser bereits am Freitag letzter Woche erzielten Einigung dürften auch langfristige Überlegungen zur Einführung einer Kopfpauschale endgültig vom Tisch sein. Diese Idee habe das deutsche Gesundheitssystem seit zehn Jahren "bedroht", so die SPD. Ihr Ende ist als klarer Sieg für die SPD zu werten.

Das sagt der Punktrichter

Die Ergebnisse des wochenlangen Koalitionspokers verwundern auf den ersten Blick: War nicht Bundeskanzlerin Angela Merkel als strahlende Wahlsiegern aus dem Urnengang am 22. September hervorgegangen? Doch zumindest laut unserer Wertung hat die SPD einen relativ klaren Sieg bei den Koalitionsverhandlungen errungen. Ihr extrem selbstbewusstes Auftreten in den Verhandlungen hat sich offenbar gelohnt. Von den zentralen Anliegen der CDU war hingegen wenig bis gar nichts zu hören, die Trommel rührte für die Union eigentlich nur die CSU.

Warum also das schwache Auftreten der Kanzlerpartei in den Verhandlungen? War es das von SPD-Generalsekretärin Andrea Nahles angekündigte Ende der "Ausschließeritis", das die Union so gefügig gemacht hat? Ab sofort schwebt das Damoklesschwert einer möglichen SPD-Wende zu Rot-Rot-Grün über der großen Koalition, falls sie denn überhaupt zustande kommt. Vielleicht ist der Kanzlerin ihr Machterhalt so wichtig, dass sie bereit war, auch größere Kompromisse bei den Inhalten einzugehen.

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