In Syrien ist der seit 2014 schwelende Bürgerkrieg seit einigen Tagen wieder voll ausgebrochen. Für das Nachbarland Türkei und dessen Präsidenten Erdogan könnte das zum Vorteil gereichen.
Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan profitiert nach Ansicht eines Militärexperten politisch von der Rebellenoffensive im Nordwesten Syriens. Zwei wichtige Ziele der Türkei im Nachbarland könnten damit verwirklicht werden, sagte der Militärexperte und ehemalige Luftwaffengeneral Erdogan Karakus der Deutschen Presse-Agentur.
Darum profitiert die Türkei von der Eskalation in Syrien
Zum einen könne Ankara darauf hoffen, dass zumindest ein Teil der mehr als drei Millionen syrischen Flüchtlinge in der Türkei in ihr Heimatland zurückkehren, sollten die Aufständischen Aleppo halten können. Das könne zu einer innenpolitischen Entspannung in der Türkei führen. Zum anderen gehe er davon aus, dass pro-türkische Rebellen die Kurdenmiliz YPG aus dem Gebiet westlich des Euphrats vertreiben, sagte Karakus. Das erhöhe aus Sicht der Türkei die Grenzsicherheit. Die Türkei sieht die YPG als Ableger der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK und damit als Terrororganisation.
Erdogan selbst zeigte sich hingegen diplomatisch. Er rufe die syrische Regierung auf, "sich an einem echten politischen Prozess zu beteiligen, um eine Eskalation der Lage zu vermeiden", sagte Erdogan laut einer Erklärung des Präsidialamtes bei einem Gespräch mit dem irakischen Ministerpräsidenten
Der Irak hatte Syrien seine Unterstützung zugesichert und gleichzeitig betont, die 600 Kilometer langen Grenze beider Länder mit der Verlegung von Panzern zu sichern. Katar sprach sich am Dienstag ebenfalls für eine politische Lösung des Konflikts in Syrien aus. "Die politische Lösung ist der einzige Weg, das Leiden des syrischen Volkes zu beenden", erklärte der Sprecher des Außenministeriums, Madsched Al-Ansari. "Wir fordern alle Parteien zu einer sofortigen Deeskalation auf und betonen die Notwendigkeit, den Zugang von Hilfsgütern zu gewährleisten", fügte er hinzu.
Das Golfemirat gehört zu den Gegnern Assads und verweigerte in den vergangenen Jahren, anders als andere Länder der Region, die Normalisierung der Beziehungen zu Damaskus. Katar und andere arabische Länder hatten 2011 mit Syrien gebrochen, nachdem Assad die brutale Niederschlagung eines Aufstands angeordnet hatte. Im darauf folgenden Bürgerkrieg wurden mehr als 500.000 Menschen getötet.
Türkisches Fernsehen fabuliert schon von osmanischen Provinzen
Und auch wenn Erdogan nicht explizit Stellung bei dem erneuten Ausbruch des Bürgerkriegs in Syrien bezogen hat, dürfte er sich doch insgeheim darüber freuen. Das türkische Fernsehen – das größtenteils unter dem Einfluss der Regierung in Ankara steht – ist bereits einen Schritt weiter gegangen. Dort hieß es laut "Spiegel": Man könnte jetzt, da Diktator Baschar al-Assad kurz vor dem Fall stehe, das "Vilâyet Aleppo" neu errichten, eine Provinz nach dem Vorbild der Osmanen. Die Türkei hält bereits seit Jahren einige Städte im Norden Syriens, was Assad – der sich einst gut mit Erdogan verstanden hat – gar nicht gefällt.
Zudem soll Erdogan seinen Amtskollegen aus Syrien einen "Mörder" und "Terroristen" genannt haben. Er lieferte zudem laut Medienberichten Waffen unter anderem an die Dschihadisten der Nusra-Front, die sich später in Haiat Tahrir al-Scham (HTS) umbenannte. Und ohne Hilfe aus Ankara hätte es die HTS-Miliz wohl nicht geschafft, im Nordwesten Syriens so lange zu überleben noch selbst einen Angriff auf Gebiete, die von Assads Truppen gehalten werden, durchzuführen.
Mitte vergangener Woche hatte eine Allianz von Aufständischen unter der Führung der Islamistengruppe HTS eine Offensive im Nordwesten Syriens begonnen und am Wochenende die Kontrolle über Aleppo und Umgebung gewonnen. Die aus mehreren Gruppierungen bestehende Rebellengruppe Syrische Nationale Armee (SNA), die von der Türkei unterstützt wird, war ihrerseits gegen Kurdenmilizen im Norden des Landes vorgerückt und hatte Gebiete von der YPG erobert.
Es wäre naiv zu glauben, Ankara habe nichts über die Vorbereitungen zur Offensive gewusst, sagte Karakus. Die Türkei unterstütze die HTS nicht militärisch, diese koordiniere sich aber mit den pro-türkischen SNA-Rebellen. Beim "Spiegel" heißt es weiter: "Es gibt keine Belege dafür, dass Erdogan die Offensive gegen Assad befohlen hat. Vieles deutet jedoch darauf hin, dass er sie genehmigt hat."
"Da die SNA aufgrund der türkischen Militärunterstützung, die sie seit Jahren erhält, stark und organisiert ist, wird die Türkei all diese Erfolge erzielt haben, ohne eine einzige Kugel im Feld abzufeuern", sagte Karakus. Die Türkei wolle aber auch Russland – Unterstützer der syrischen Regierung – nicht verärgern. Daher werde die Türkei seiner Einschätzung nach versuchen, die HTS daran zu hindern, weiter nach Süden vorzudringen. Am Montag hatte die Türkei zu Verhandlungen zwischen syrischer Regierung und Opposition aufgerufen.
Assad ließ Erdogan immer wieder auflaufen
Eigentlich war die Türkei lange gegen eine erneute Eskalation in Syrien. Man hatte in den vergangenen Monaten wohl versucht, das Verhältnis zwischen den beiden Ländern zu kitten. Dies sei jedoch nach Aussagen irakischer Offizieller gescheitert, weil Assad zu keinerlei Zugeständnissen an Erdogan bereit gewesen war. Assad lehnte zu dem ein Treffen mit Erdogan im November in Saudi-Arabien ab, obwohl Gastgeber Kronprinz Mohammed bin Salman ihn darum gebeten hatte, wie Medien berichten. Diese Absage soll wohl dazu geführt haben, dass Ankara sein OK zum Vorstoß der HTS in Syrien gegeben hat.
Sollten die HTS-Truppen weiter vorrücken und sollte sich Russland und der Iran als größte Verbündete des Assad-Regimes nicht in den Konflikt einschalten, steht der Diktator mit dem Rücken zur Wand. Er könnte dann gezwungen sein, größere Eingeständnisse gegenüber Erdogan machen zu müssen – beispielsweise bei einer Pufferzone im Grenzgebiet zur Türkei, schreibt der "Spiegel". (the)
Verwendete Quellen
- Material von AFP und dpa
- Der Spiegel (hinter einer Bezahlschranke): Früher machten sie gemeinsam Urlaub. Jetzt hat Erdoğan den syrischen Diktator in der Hand
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