In der Ukraine tobt seit Tagen vor allem ein Nervenkrieg. Wie dieser ausgeht, hängt von vielen Faktoren ab. Das gilt auch für die Frage, welche Auswirkungen eine mögliche bewaffnete Konfrontation am Schwarzen Meer auf die Menschen in Deutschland und ganz Mitteleuropa haben könnte. Letztere dürften allerdings recht gering ausfallen – so bizarr das angesichts eines drohenden Krieges am Rande Europas auch klingen mag.
Etwas mehr als 1.700 Kilometer Luftlinie liegen zwischen Berlin und Sewastopol, jener ukrainischen Hafenstadt, die Russland auf keinen Fall aufgeben will. Im globalen Maßstab bedeutet das: Sewastopol, wie die ganze Halbinsel Krim, liegen von Deutschland aus gesehen "um die Ecke". Und ausgerechnet dort droht nun mit der Krim-Krise eine Eskalation der Gewalt, die sich womöglich zu einem Krim-Krieg auswachsen könnte.
Seitdem sich pro-russische Kräfte auf der Halbinsel von der ukrainischen Übergangsregierung in Kiew losgesagt und russische Truppen Teile der Krim de facto besetzt haben, warnen unter anderem westliche Spitzenpolitiker vehement vor einer Zuspitzung. Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) erklärte, er sehe Europa "ganz ohne Zweifel in der schärfsten Krise seit dem Mauerfall". Die Gefahr einer erneuten Spaltung Europas sei wieder real. Sein britischer Amtskollege William Hague nannte die Konfrontation zwischen Russland und der ehemaligen Sowjetrepublik die bislang größte Krise in Europa im 21. Jahrhundert.
Bislang ist es vor allem ein Nervenkrieg, der subtil fast in der ganzen Ukraine, intensiv im Osten des Landes und zuvorderst auf der Krim geführt wird. Mutmaßlich russische Soldaten vor Kasernen ukrainischer Grenzsoldaten; Meldungen, die Russen wollten die Anlagen stürmen; dann die Dementis solcher Berichte – es ist bislang vor allem ein Konflikt der Drohungen, der 1.700 Kilometer Luftlinie von Berlin entfernt geführt wird.
Ob die Krim-Krise vor diesem Hintergrund in einen Krim-Krieg umschlagen wird, hängt von vielen, im Ergebnis unberechenbaren, unvorhersehbaren Faktoren ab. Vor allem ist es wohl die Nervenstärke der Akteure auf der Krim, die darüber entscheiden wird, ob am Schwarzen Meer bald getötet und gestorben wird. In den Worten
Anders formuliert: Das größte Risiko für eine Eskalation auf der Halbinsel besteht derzeit darin, dass ukrainische und russische Soldaten plötzlich, womöglich ohne direkten Befehl aufeinander feuern, weil sie sich von ihren Gegenübern provoziert fühlen – und so eine unkontrollierbare Gewaltspirale in Gang gesetzt wird.
Zusätzlich hängt die "Krieg oder Frieden"-Frage besonders davon ab, ob die politischen und militärischen Führer in Kiew, Moskau, Washington und Brüssel ihrer Mitspieler in diesem todernsten Spiel richtig einschätzen. Wird der russische Präsident
Hält Putin solche Ansagen aus Kiew zu recht nur für leeres Geschwätz oder riskieren die neuen Machthaber in Kiew wirklich einen militärischen Konflikt mit Russland, obwohl sie kaum eine Chance auf einen klassischen Sieg in einem solchen Krieg hätten? Auch das sind Variationen des Nervenkrieges auf der Krim, die zwar in Hinterzimmern und auf Pressekonferenzen rund um den Globus statt am Schwarzen Meer selbst ausgetragen werden, die aber deshalb nicht weniger wichtig für die Zukunft der Region sind.
Und weil der Ausgang dieses Nervenkrieges aktuell offen ist, ist derzeit auch einigermaßen unklar, wie mögliche Kämpfe zwischen ukrainischen und russischen Soldaten aussehen beziehungsweise wo diese genau stattfinden könnten – sollte es wirklich dazu kommen. Das wahrscheinlichste Szenario für eine solche Konfrontation ist nach derzeitigem Stand der Dinge ein regional begrenzter "Kreuzzug" Russlands auf der Krim. Dabei würden die russischen Truppen gegen die kiewtreuen, ukrainischen Einheiten auf der Halbinsel kämpfen, sie vermutlich überwältigen und die Krim dann endgültig vom Rest der Ukraine abriegeln. Wären die ukrainischen Soldaten dort erst einmal besiegt, wäre dies geografisch ohne größere Probleme möglich.
Die von etwa zwei Millionen Menschen – überwiegend Russen – bewohnte Halbinsel ist nur etwa so groß wie Mecklenburg-Vorpommern und mit der übrigen Ukraine nur durch die etwa acht Kilometer breite Landenge von Perekop fest verbunden. Wie blutig eine solche Operation wäre, hinge entscheidend davon ab, wie viele der ukrainischen Soldaten auf der Krim für Kiew kämpfen würden. Das ist noch eine Unbekannte in dem Konflikt in einem Land, das zwischen pro-russischen und pro-westlichen Kräften tief gespalten ist.
Dass dieses Szenario das derzeit wahrscheinlichste ist, liegt an den strategischen Interessen Russlands, die sich eben vor allem aus die Sicherung Sewastopols als Ankerplatz für seine Schwarzmeerflotte beziehen. Anders als es auf den ersten Blick scheint, wenn verkürzt von einem drohenden Krieg zwischen der Ukraine und Russland gesprochen wird, geht es den Russen gar nicht darum, die Ukraine vollständig zu besetzen und dafür vielleicht bis an die ukrainische Grenze zu Polen vorzustoßen. Die unmittelbaren territorialen Interessen von Putins Russland sind sehr viel begrenzter.
Sollte es deshalb zwischen den beiden Ländern tatsächlich zu dem kommen, was im Englischen "shooting war" heißt, dann hätte das – so bizarr es angesichts der relativ geringen Distanz zwischen Berlin und Sewastopol klingt – auf das alltägliche Leben der Menschen in Mitteleuropa und Deutschland wohl nur wenige Auswirkungen.
Vielleicht fallen ein paar Flüge aus oder werden umgeleitet. Möglicherweise kommt es zu kurzfristigen Engpässen bei der Lieferung von russischem Gas durch ukrainische Pipelines nach Europa. Unter Umständen schließt Polen seine Grenzen zur Ukraine. Gegebenenfalls nimmt Deutschland einige Kriegsflüchtlinge auf. Vermutlich finden die Märkte mal wieder einen Grund, den Ölpreis und damit die Spritpreise steigen zu lassen.
Aber anders als bei der deutschen beziehungsweise der internationalen Wirtschaft, für die die Folgen der Krim-Krise schon spürbar sind, dürfte viel mehr von einem eventuellen Krim-Krieg bei den meisten Deutschen und Mitteleuropäern nach der jetzigen Lage der Dinge kaum ankommen; jenseits von Medienberichten und Appellen politischer Verantwortungsträger, den Konflikt schnell beizulegen. Dass Deutschland – vielleicht sogar militärisch – in einen Krieg zwischen der Ukraine und Russland unmittelbar hineingezogen wird, ist derzeit absolut unwahrscheinlich.
1.700 Kilometer können also auch eine ziemlich große Entfernung sein.
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