Griechenland muss mehrere Krisen gleichzeitig bewältigen. Die Corona-Pandemie, einen kriegslüsternen Nachbarn, Flüchtlingschaos in Moria, Wirtschaftseinbruch und Tourismus-Flaute - doch anders als früher wird das Land besonnen und klug regiert. Und kommt verblüffend gut durch das Katastrophenjahr. In der Moria-Krise erteilt Athen den Deutschen sogar eine Lektion.
Kyriakos Mitsotakis hat den schwersten Regierungsjob der Europäischen Union. Der griechische Ministerpräsident muss nicht nur die Corona-Pandemie überstehen, sondern gleich drei Extra-Krisen obendrein. Griechenland kommt erstens aus einer schweren Wirtschaftsdepression, dann muss es sich zweitens einer aggressiven, kriegslüsternen Türkei erwehren und drittens das Flüchtlingschaos an seinen Grenzen und in Lagern wie Moria bewältigen.
Zur Verblüffung der europäischen Öffentlichkeit gelingt Athen all das im Katastrophenjahr 2020 erstaunlich geschickt. Das einstige Sorgenkind Europas mutiert zusehends zum Musterknaben.
Griechenland: Besser durch die Coronakrise als andere Staaten
Anders als Spanien, Italien und Frankreich kommt Griechenland besser durch die Coronakrise. Das Land meldet - obwohl die Infiziertenzahlen seit einigen Wochen wieder steigen - bislang nur 33 Tote auf eine Million Einwohner. Selbst das ebenfalls glimpflich durch gekommene Deutschland zählt immerhin 113, Frankreich 480, Italien 591, Spanien 656, Belgien gar 858. Griechenland wird bereits als "Musterland in der Bekämpfung der Pandemie" gefeiert.
Viel früher und konsequenter als andere Staaten hat Athen Social Distancing angeordnet, Ärzte neu eingestellt und Intensiv-Stationen ausgebaut. Die öffentliche Kommunikation war von Anfang an betont sachlich, transparent und wissenschaftsorientiert.
Die Politik der Besonnenheit trägt den Namen Kyriakos Mitsotakis. Der neue Premier war durch die Parlamentswahl im Sommer 2019 ins Amt gekommen. Nach den schillernden sozialistischen Experimenten der wild-linken Regierungsgeneration von Tsipras bis Varoufakis wollten die Griechen das seriöse, bürgerliche Gegenbild, einen Mann der Mitte, der endlich für einen echten Aufschwung sorgt. Mitsotakis verkörpert das auf geradezu klischeehafte Weise.
Mitsotakis - der Kennedy der Griechen
Der bürgerliche Ministerpräsident und ehemalige Investmentbanker entstammt einer der ältesten Politikerdynastien, der Vater war bereits Ministerpräsident, seine ältere Schwester schon einmal Außenministerin, die ganze Familie lebte während der griechischen Militärdiktatur im Exil. Mitsotakis ist auch deshalb außergewöhnlich international und polyglott: Harvard, Stanford, McKinsey, geschliffenes Englisch. Dazu ein geschmeidiges, diplomatisches Auftreten mit Charisma, sodass manche ihn schon als "Kennedy der Griechen" ansahen.
Tatsächlich sorgte Mitsotakis mit einer marktwirtschaftlichen Agenda rasch für eine Aufbruchsstimmung im Land. Die Wirtschaft erholte sich, Auslandsinvestitionen kamen ins Land, selbst Kredite bekam das Land wieder auf dem freien Markt, Zinsen fielen und die Aktien in Athen stiegen in seinen ersten Amtsmonaten stärker als in jedem anderen Industrieland der Welt. Griechenland meldete plötzlich sogar Haushaltsüberschüsse, ein kleines Wirtschaftswunder bahnte sich an.
Doch dann kam das Katastrophenjahr 2020. Erst belagerten Ende Februar Zehntausende von Erdogan aufgehetzte Migranten die türkisch-griechische Grenze, dann kam SARS-CoV-2, der Konjunkturcrash und schließlich die offene Kriegsdrohung Ankaras im Streit um Rohstoffe und Seegrenzen. "Es war gewiss nicht, was ich bei meinem Amtsantritt erwartete", sagt der Premierminister ernüchtert.
Ein Dialog ohne "vorgehaltene Waffe"
Doch Mitsotakis blieb im vierfachen Chaos vor allem eines - cool. Eine Krisenlage nach der anderen managte er im Stil eines superkontrollierten Notarztes. Das Dröhnende und Hemdsärmelige seiner Vorgänger geht ihm völlig ab.
Auch wenn Erdogan beinahe täglich provoziert, Kriegsschiffe auffahren lässt und neo-osmanische Aggression verbreitet - Mitsotakis bleibt in der Ägäis-Krise besonnen, sucht im Hintergrund leise Nähe zu den Verbündeten in Europa wie NATO und löst auf diplomatische Weise manchen Konflikt, ehe er vollends eskaliert. Geschickt bringt er den Internationalen Gerichtshof ins Spiel, zeigt zugleich aber Selbstbewusstsein und Verteidigungswillen. Sein Land habe aber "die militärische Stärke, um jede türkische Aggression abzuwehren", sagt Mitsotakis.
Eine militärische Konfrontation liege aber in niemandes Interesse. Griechenland sei für einen Dialog mit der Türkei, "aber nicht mit vorgehaltener Waffe". Mithilfe der EU-Partner, die Mitsotakis anders als seine Vorgänger sorgsam und systematisch kontaktiert, ist es Mitsotakis nun gelungen, die Türkei zum Rückzug ihrer aggressiven Rohstofferkundungen zu bewegen und die Tür für Verhandlungen aufzustoßen.
Mitsotakis pocht auf Rechtsstaatlichkeit
Und auch in der Flüchtlingskrise verhält sich Mitsotakis bemerkenswert besonnen und geradlinig. Nach dem Brand im Lager Moria hat er weder Rechtspopulisten nachgegeben, die eine härtere Gangart gegen vermeintliche "Brandstifter und Invasoren" fordern, noch dem moralischen Druck der Linken, nun die Grenzen "aus humanitären Gründen" wieder unkontrolliert zu öffnen. Für Mitsotakis wäre es politisch bequem gewesen, die obdachlos gewordenen Lagermigranten - wie weiland Ungarns Orban 2015 - einfach nach Deutschland durchzuwinken, vor allem da aus Deutschland entsprechende Lockrufe lautstark gekommen sind.
Mitsotakis aber pocht mit ruhigem Ton auf Rechtsstaatlichkeit und sichere Grenzen. Europa könne sich nicht durch illegale Migranten mit Gewalt und Brandstiftung erpressen lassen: "Es gibt keinen Zweifel, dass Moria niedergebrannt wurde", warnt der Ministerpräsident. Sechs Afghanen sind von der Polizei inzwischen festgenommen worden, alle hatten bereits Asylanträge gestellt, die jedoch abgelehnt worden waren.
Mitsotakis erteilt damit manchen in Berlin eine Lektion: Wenn man den Brandstiftern leichtfertig nachgebe, würde man Kriminelle belohnen und es kämen wie 2015 viele neue junge Männer nach. Das Faustrecht der Stärkeren dürfe aber nicht zum Maßstab Europas werden.
Geschlossene EU-Politik für die Außengrenzen
Und so wächst Mitsotakis plötzlich in die Rolle von Europas neuem Recht- und Grenzschützer. Tatsächlich haben sich in seiner Amtszeit die Flüchtlingszahlen an den griechischen Grenzen halbiert. Immer weniger wagen die Flucht über das Meer in das Lager auf Lesbos, weil Mitsotakis die Chancen auf eine Weiterreise nach Europa systematisch minimiert. Seine Linie soll nun zum Euro-Grenzschutzprogramm werden, denn ein besser ausgestattetes Lager wird auf der Insel gebaut.
Das neue Zentrum werde in Zusammenarbeit mit der Europäischen Union errichtet. "Es wird auch die Fahne Europas tragen", verkündet Mitsotakis mit einigem Stolz. Denn damit ist klar: Die EU ist auf seinen Kurs eingeschwenkt. Und so staunen in Brüssel einige nicht schlecht, dass er etwas zustande bringt, was jahrelange innereuropäische Diplomatie bisher nicht vermocht hat - eine geschlossene EU-Politik für die Außengrenze. Dabei hilft, dass Mitsotakis sich mit Angela Merkel ebenso gut versteht wie mit Sebastian Kurz und beide nun in seine Migrationspolitik einbindet.
Auch die Mehrheit der Griechen gibt dem Premier für sein Krisenmanagement in der Corona- wie der Flüchtlingskrise gute Noten. In einer neuen Umfrage baut er den Vorsprung seiner konservativen Nea Dimokratia zum Linksbündnis Syriza gegenüber der letzten Wahl von acht auf mehr als 20 Prozent aus. 62 Prozent der Befragten sind mit der Arbeit seiner Regierung zufrieden.
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