Seit einer islamistischen Messerattacke in Mannheim wird wieder verstärkt über Abschiebungen in Länder wie Afghanistan diskutiert. Die Grünen-Bundestagsabgeordnete Lamya Kaddor hält das für die falsche Antwort auf Islamismus. Im Interview fordert sie mehr Unterstützung für moderate Muslime.

Ein Interview

Der Schock sitzt für viele noch tief: Vor einer Woche fiel der Polizist Rouven Laur einem islamistisch motivierten Attentat zum Opfer, fünf weitere Personen wurden verletzt. Der mutmaßliche Täter kommt aus Afghanistan. Nun stellen sich im politischen Berlin viele die Frage: Muss in bestimmten Fällen auch in Länder abgeschoben werden, in denen Unrechtsregime herrschen?

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Immer mehr Politiker sprechen sich dafür aus – vom Bundeskanzler bis zum Oppositionsführer. Innerhalb der Ampel-Koalition stellen sich nur die Grünen quer. "Weil wir wissen, dass das in der Praxis sehr schwer umsetzbar ist", begründet Lamya Kaddor die Haltung ihrer Partei. Im Interview sagt die innenpolitische Sprecherin der Grünen-Bundestagsfraktion und bekennende Muslima, was stattdessen getan werden sollte.

Frau Kaddor, haben die Grünen beim Thema Islamismus einen blinden Fleck?

Lamya Kaddor: Nein, ganz im Gegenteil. Unser Parteivorsitzender Omid Nouripour ist ein starker Verfechter des Kampfes gegen Islamismus. Auch mein Anliegen ist es, die grüne Position nach außen klarzumachen: Wir stehen an der Seite von 99,9 Prozent der Muslime in Deutschland, die hier friedlich leben wollen, und deutlich gegen jene, die einen islamischen Gottesstaat oder Ähnliches wollen und Andersgläubige bekämpfen. In dieser Frage sind wir sehr klar. Wir kommen halt nur nicht mit platten Parolen um die Ecke, und gaukeln den Leuten vor, das Problem ließe sich mal eben lösen. So geht es eben nicht. Sonst hätte das die anderen Regierungen vor unserer ja längst regeln können. Sie werden ja im Laufe der Zeit selber erleben können, wie schwer es sein wird, beispielsweise nach Afghanistan abzuschieben.

In der Bundestagsdebatte am Donnerstag forderte der CDU-Politiker Alexander Throm von Ihrer Fraktion und Ihnen persönlich, Ihr Verhältnis zum Islamismus zu klären. Sie forderten daraufhin eine Entschuldigung. Ist die erfolgt?

Nein. Wissen Sie, persönliche Angriffe oder Spielchen mit Unterstellungen und Verleumdungen bin ich im Bundestag bisher nur von Seiten der AfD gewöhnt gewesen. Dass so etwas jetzt es aus der Mitte der CDU kommt, ist schon bitter. Ich selbst habe Herrn Throm in keiner Weise persönlich irgendetwas vorgeworfen, ich habe auf Nebenwirkungen des Antrags seiner Fraktion hingewiesen. Es ist absolut legitim, hart in der Sache zu diskutieren. Herr Throm muss mir nicht zustimmen. Aber solche persönlichen Angriffe sind nicht in Ordnung. Und der Applaus aus seiner Fraktion war es auch nicht. Solche Aussagen sind der CDU nicht würdig, erst recht, wenn sie das "Christlich" im Namen trägt.

Ich selbst bin seit Jahren immer wieder Ziel von Islamisten. Das ist öffentlich bekannt. Am meisten hassen Islamisten Muslime wie mich, die ein liberales Islam-Verständnis haben und dafür auch öffentlich einstehen. Ich habe das über fast 20 Jahre vor meiner Wahl in den Bundestag mit unzähligen Publikationen, Projekten, Vorträgen, Veranstaltungen und Forschungsvorhaben getan. Und das weiß Herr Throm natürlich. Meines Erachtens sollten demokratische Parteien zumindest beim Thema Kampf gegen Extremismus zusammenstehen und sich gemeinsam auf die islamistischen Agitatoren und sonstigen Feinde der Demokratie konzentrieren. Ich dachte bisher auch, das wäre Konsens.

Lamya Kaddor: "Islamfeindlichkeit treibt Menschen in die Arme von Islamisten"

Throms Bemerkung ging Ihre Rede voraus, in der Sie sagten, dass der Kampf gegen den Islamismus nur mit und nicht gegen die Muslime in Deutschland geführt werden kann. Das war auch eine Spitze gegen die Union. Finden Sie das fair?

Ja, das finde ich fair. Ich bin, wie gesagt, Muslimin. Und wenn mir andere Muslime erklären, dass sie sich regelmäßig schlecht fühlen, weil ihnen entweder direkt oder indirekt immer wieder eine Nähe zu Gewalt, Rückständigkeit et cetera unterstellt werden, sobald sie sich zu dieser Religion bekennen, dann muss ich es ansprechen, wenn der Antrag einer Fraktion solche Befürchtungen hervorrufen kann. Herr Throm mag das anders sehen, aber er hat eben auch nicht die Expertise, um sich hinzustellen und zu sagen: Das ist alles Quatsch.

Eigentlich hatte die CDU in den vergangenen Jahren dazugelernt. Der Parteivorsitzende Merz hat gesagt, das Problem sei eine kleine radikalisierte Gruppe, nicht alle Muslime. Wenn man dann im Parlament aber nur über Islamisten redet und nie über moderate Muslime, dann kommt wieder ein Ungleichgewicht hinein. Wenn man Islamismus bekämpfen will, muss man die Islamfeindlichkeit mitdenken. Denn die Islamfeindlichkeit treibt Menschen in die Arme von Islamisten, die ihnen vorgaukeln, sie könnten etwas gegen diese Islamfeindlichkeit tun. Das ist natürlich eine komplette Lüge. Aber deshalb muss man eben gleichzeitig sagen: Wir bekämpfen den Islamismus, stehen aber auch solidarisch neben gemäßigten Muslimen, die auf dem Boden des Rechtsstaats stehen.

Das schafft die Union Ihrer Meinung nach nicht?

Das passiert zu wenig bei der CDU und der CSU. Es gibt natürlich ganz viele, die das schaffen. CDU und CSU sind eine große Volkspartei, und ich schätze viele in diesen Parteien seit vielen Jahren. Der Antrag aber, den die Unionsfraktion zum Thema Islamismus am Donnerstag in den Bundestag eingebracht hat, ist wieder einseitig gewesen, so wie frühere Papiere auch schon. Ich vermute, das hat auch was mit dem Wahlkampf zu tun. Es fehlt jedenfalls in vielen Islam-Papieren die Solidarität mit Muslimen. Und das hat die Union gestern mit der Attacke auf meine Person ja auch noch mal unterstrichen. Damit untermauert sie das Narrativ der Islamisten. Die sagen nämlich: Alle Nicht-Muslime hassen Muslime.

Der Anlass der Debatte im Bundestag war der islamistisch motivierte Messerangriff in Mannheim, bei dem ein Polizist getötet und fünf weitere Menschen verletzt wurden. Welche Antwort sollte die Politik Ihrer Meinung nach darauf finden?

Der Täter sollte eine möglichst hohe Strafe bekommen. Ich gehe davon aus, dass es sich um einen gezielten Mord gehandelt hat. Das ist Terror. Eine weitere Konsequenz könnte eine Verschärfung des Waffenrechts sein. Das Führen von Messern in der Öffentlichkeit sollte härter bestraft werden, genauso wie das Beklatschen und Feiern solcher Taten im Internet. Wer in Deutschland nur geduldet ist und schwere Straftaten begeht, muss abgeschoben werden. Gleichzeitig muss man sich dabei an deutsches und internationales Recht halten. Wir Grünen sind scheinbar die einzigen, die so ehrlich sind und auf die Zweifel dabei im Fall von Afghanistan und Syrien hinweisen. Dafür werden wir geprügelt, aber ich finde das besser, den Menschen in diesem Land die Wahrheit zu vermitteln und nicht irgendwelche Versprechungen zu machen, die nachher möglicherweise nicht einzuhalten sind.

Kaddor: "Es wäre falsch, Kontakte zu den Taliban aufzunehmen"

Der mutmaßliche Täter von Mannheim kommt aus Afghanistan, wohin seit der Machtübernahme der Taliban nicht mehr abgeschoben wird. Vom Bundeskanzler bis zum Oppositionsführer fordern jetzt aber zahlreiche Politiker, Rückführungen in das zentralasiatische Land wiederaufzunehmen. Die Grünen nicht. Warum?

Weil wir wissen, dass das in der Praxis sehr schwer umsetzbar ist. Afghanistan wird von den Taliban regiert, einer international geächtete Terrororganisation. Kein anderes europäisches Land schafft es derzeit, dorthin abzuschieben - von einzelnen Ausnahmen vielleicht abgesehen. Rechtlich ist das eben kaum möglich. Das Bundesinnenministerium hat angekündigt, Abschiebungen nach Afghanistan erneut zu prüfen. Ministerin Faeser wird uns also in nächster Zeit erklären, ob und wie das gehen könnte. Auf dieser Grundlage werden wir weiterdiskutieren.

Ihnen fehlt aber offenkundig die Fantasie, wie Abschiebungen nach Afghanistan möglich sein sollen.

Ja, im Moment fehlt mir dafür tatsächlich die Fantasie. Vielleicht gibt es eine rechtlich saubere Möglichkeit, ich kenne diese aber nicht. Wir Grünen finden auch, dass jemand wie der Täter von Mannheim nicht in Deutschland bleiben darf. Gleichzeitig wäre es falsch, durch Kontakte zum Taliban-Regime deren internationalen Status aufzunehmen. Das sind Verbrecher. Terroristen. Glauben Sie ernsthaft, die würden ihre kriminellen Staatsbürger ohne Gegenleistung zurücknehmen?

Der CDU-Vorsitzende Merz sagt, dass es "technische Kontakte" zu den Taliban gebe, die man für Abschiebungen nutzen könne. Außerdem wurde seitens der SPD die Möglichkeit ins Spiel gebracht, ausreisepflichtige Afghanen nach Pakistan abzuschieben. Überzeugen Sie diese Vorschläge nicht?

Zu den Taliban sind mir keine Kontakte bekannt, über die man Abschiebungen organisieren könnte. Das ist eine Frage, zu deren Aufklärung der Bericht des Innenministeriums hoffentlich beiträgt. Wollen wir aber wirklich Islamisten zu den Taliban abschieben und dafür möglicherweise auch noch Geld zahlen? Damit stärken wir letztlich islamistische Strukturen, aus denen heraus wiederum Anschläge in Deutschland geplant werden könnten.

Was ist mit Pakistan?

Es gibt Berichte, dass Pakistan geflohene Afghanen einfach an der Grenze zwischen beiden Ländern aussetzt. Als Rechtsstaat müssen wir uns ehrlich die Frage stellen, ob wir wirklich mit so einem Land kooperieren wollen.

Kaddor: "Der Islamismus hat sich weiterentwickelt"

Bis zur nächsten Bundestagswahl ist es nur noch etwas mehr als ein Jahr hin. Was sollte die Ampel-Regierung beim Thema Islamismus bis dahin noch leisten?

Wir brauchen Anhörungen und weitere Expertise im Bundestag zu dem Thema. Der Islamismus hat sich nämlich in den vergangenen Jahren weiterentwickelt und stark in den digitalen Raum verlegt. Die Politik muss erst mal auf den neuesten Stand gebracht werden. Insbesondere müssen wir uns die Finanzströme der Islamisten im Ausland anschauen. Ich will aber, dass wir uns in der Regierung auch die großen Fragen stellen.

Zum Beispiel?

Mit welchen Muslimen wollen wir in diesem Land zusammenarbeiten? Wir brauchen endlich eine strukturelle Lösung, um moderate Muslime gegen Islamisten zu unterstützen. Wenn wir nicht wollen, dass muslimische Gemeinschaften aus dem Ausland finanziert werden, dann müssen wir einen anderen Weg vorschlagen.

Wie könnte der aussehen?

Das könnte ein Staatsforum oder eine Staatsstiftung sein, die mit Kapital ausgestattet wird. Das Geld kann dann an jene muslimischen Gemeinden verteilt werden, die sich klar zu unserer Demokratie bekennen und die nicht von anderen Staaten beeinflusst werden. Leider haben wir es in den vergangenen 40 Jahren versäumt, eine solche Struktur aufzubauen.

Über die Gesprächspartnerin

  • Lamya Kaddor ist 1978 im westfälischen Ahlen geboren. Sie ist Tochter syrischer Einwanderer. Kaddor studierte unter anderem Islamwissenschaft und Pädagogik an der Universität Münster. Sie nahm Lehraufträge an verschiedenen Hochschulen wahr und unterrichtete an Schulen das Fach "Islamische Religion". Kaddor versteht sich als moderate Muslima und bezieht regelmäßig Stellung gegen Islamismus. 2020 trat sie Bündnis 90/Die Grünen bei und zog 2021 in den Bundestag ein. Dort ist sie Sprecherin ihrer Fraktion für Innen- und Religionspolitik.
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