Die Coronavirus-Pandemie ist noch lange nicht vorbei, Deutschland nicht über den Berg: Das betonen Politiker und Experten seit Tagen. Trotzdem werden Maßnahmen gelockert. Was bewirkt das in den Köpfen der Menschen?
Rentner spielen Boule, Freunde treffen sich zum Picknick, Jugendliche genießen die schulfreie Zeit gemeinsam im Park. Die Coronakrise und die Kontaktbeschränkungen scheinen vielerorts schon wieder fast vergessen - zumindest wenn man bei schönem Wetter durch Berliner Bezirke wie Kreuzberg geht.
Auch in manchen Familien ändert sich gerade etwas: Am Wochenende die alte Mutter endlich wieder besuchen? Na klar, wird schon gut gehen - und Mundschutz haben wir ja auch. Setzt eine neue Sorglosigkeit ein, nach wochenlangem Lockdown?
Expertin: Aus virologischer Sicht keine Grundlage für Lockerungen
Mit den Lockerungen habe die Regierung ein falsches Signal gesendet, sagte die Virologin Melanie Brinkmann vom Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung in Braunschweig dem "Spiegel": "Jetzt sehen die Menschen, dass einige Maßnahmen gelockert werden, und das vermittelt ihnen den Eindruck, dass der Lockdown jetzt nach und nach aufgehoben wird und sie schon bald zum Alltag zurückkehren können."
Dabei gebe es aus virologischer Sicht keine Grundlage für Lockerungen. "Ein intelligentes Anpassen ja, aber in Summe können wir uns kein Wiederaufflammen der Infektionszahlen leisten."
Für den Sozialpsychologen Andreas Glöckner von der Universität Köln sind Ermüdungserscheinungen nach wochenlanger Quarantäne ein Stück weit normal: "So eine Belastung ist für eine lange Zeit schwer auszuhalten", sagte er der Deutschen Presse-Agentur (dpa). Die Menschen sehnten sich nach "einem Punkt am Horizont, ab dem sich etwas ändert".
Insofern sei die Entscheidung der Politik richtig, den Lockdown nicht zum Dauerzustand zu machen. Denn ohne gute Erklärungen könne so eine Maßnahme zu Aggression und Frust führen.
Empirische Daten - verfügbar bisher aus der Zeit vor dem Beschluss der Lockerungen - zeigten, dass die Akzeptanz der Maßnahmen und das Vertrauen in die Wissenschaft relativ hoch seien, betont Glöckner. "Wir sehen bisher nicht, dass die Risikowahrnehmung zu lax wäre." Das hänge auch damit zusammen, dass die Menschen sehr gut informiert seien.
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Wahrnehmung des Risikos verändert sich
Der Wissenschaftler sieht aber durchaus die Gefahr, dass sich die Wahrnehmung mit der Zeit ändert. Ein Faktor könnte dabei gerade die Tatsache sein, dass Deutschland bisher vergleichsweise glimpflich durch die Pandemie kam - Intensivbetten etwa waren frei, während andere Länder zahlreiche Tote zu beklagen hatten.
"Viele Menschen haben in den vergangenen Wochen nichts erlebt", sagt Glöckner. "Der Effekt ist: Man trägt zehn Tage eine Maske, aber am elften nicht mehr. Schließlich ist es zehn Tage lang gut gegangen."
Virologin Brinkmann befürchtet, dass viele Menschen das Virus nun nicht mehr so ernst nehmen und wieder mehr Kontakte pflegen. "Wenn das passiert, stehen wir bald wieder da, wo wir am Anfang standen", sagte sie dem "Spiegel". "Durch die Lockerungen wird die Ansteckungsrate vermutlich wieder über eins steigen - dann haben wir wieder ein exponentielles Wachstum, das man nur sehr schwer unter Kontrolle bekommt."
Gerade Phänomene wie das exponentielle Wachstum könnten von der Bevölkerung leicht unterschätzt werden, schildert Glöckner - schließlich ist die Geschwindigkeit, mit der sich das Virus dann ausbreiten kann, für Laien kaum vorstellbar.
Drosten: Deutschland kann seinen Vorsprung schnell wieder einbüßen
Deutschlands Vorsprung - durch frühzeitiges Erkennen des Ausbruchs - stehe auf dem Spiel, warnte auch der Berliner Virologe Christian Drosten. Er kritisierte etwa geöffnete Einkaufszentren, in denen sich nun wieder viele Menschen sammelten, weil einzelne Geschäfte klein genug sind, um öffnen zu dürfen.
Und er befürchtet, dass sich Menschen oder Firmen nun eigene Spielregeln überlegen, um zu einer Art Normalität zurückzufinden: "Wenn alle anfangen, sich die eigenen Interpretationsspielräume auszulegen ganz frei, dann starten an vielen Orten in Deutschland plötzlich neue Infektionsketten."
Für die Politik ist der allmähliche Weg aus den rigiden Corona-Beschränkungen eine Gratwanderung. Denn ohne eine anhaltende generelle Akzeptanz unter den Bürgern ist das Krisenmanagement nur schwer möglich.
Daher sind auch die Botschaften eine sensible Sache: Wie stark können ermunternde Signale ausfallen, ohne dass sich eine trügerische Sicherheit ausbreitet? Was bewirkt es, wenn über Lockerungen für Einkaufszentren oder Fußballspiele geredet wird?
Von Kanzlerin Angela Merkel (CDU) kam dazu eine deutliche Mahnung: "Wir bewegen uns auf dünnem Eis, man kann auch sagen: auf dünnstem Eis."
Viel Verantwortung liegt bei den Ländern
Dabei ist es nicht der Bund allein, der das Lockerungstempo dosiert. Konkrete Maßnahmen sind meist Ländersache, was auch die Kommunikation vielstimmiger macht. Generell geht es um eine Gesamtabwägung: Neben dem Kampf gegen das Virus kommen soziale und wirtschaftliche Nöte in den Blick, die ebenso die Stimmung prägen.
Ein Szenario, dass rigide Beschränkungen womöglich wieder von vorne losgehen müssten, will die Bundesregierung vermeiden. Sie wirbt für kleine Schritte, die jeweils überprüft werden. Das erhalte Vertrauen in die Verlässlichkeit von Entscheidungen, argumentierte Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU).
Wie sich die Neuinfektionen und die Reproduktionszahl entwickeln - ob sich womöglich zu viel Entspannung in den Köpfen breit macht -, wird sich jedenfalls mit einiger Verzögerung zeigen: Zwischen Ansteckung und Meldung vergehen nach Experteneinschätzung bis zu zwei Wochen. (Sascha Meyer und Gisela Gross/dpa/ank)
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