Als neue Chefin der EU-Kommission hat Ursula von der Leyen vor fünf Jahren Europa auf ambitionierten Klimaschutz getrimmt. Jetzt kämpft sie um eine zweite Amtszeit – und flirtet auch mit rechten Parteien. Wie passt das zusammen?

Eine Analyse
Dieser Text enthält eine Einordnung aktueller Ereignisse, in die neben Daten und Fakten auch die Einschätzungen von Fabian Hartmann sowie ggf. von Expertinnen oder Experten einfließen. Informieren Sie sich über die verschiedenen journalistischen Textarten.

Ursula von der Leyen (CDU) kämpft um ihren Job. Die EU-Kommissionspräsidentin war in den letzten Tagen noch einmal viel unterwegs, um für sich zu werben. Bis nach Niedersachsen führte sie die heiße Phase des Europawahlkampfs. Schon von der Leyens Vater, Ernst Albrecht, regierte das Land als Ministerpräsident, auch ihre politische Karriere begann in Hannover. Der Auftritt hier: ein Heimspiel gewissermaßen, auch wenn von der Leyen längst in anderen Sphären unterwegs ist.

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Wenn die Europäerinnen und Europäer vom 6. bis 9. Juni ein neues Parlament wählen, geht es um viel: Wirtschaft, Klima, Soziales, Migration, die Frage, was für ein Kontinent Europa eigentlich sein will. Und was aus Ursula von der Leyen wird.

Die Deutsche steht seit fünf Jahren an der Spitze der EU-Kommission, sie ist damit Europas mächtigste Frau, "Madame Europa" wird sie genannt. Von der Leyen möchte gerne in Brüssel weitermachen. Ihre Chancen stehen nicht schlecht, auch wenn es keineswegs ausgemacht ist, dass von der Leyen bleibt, wo sie ist.

EU-Wahl: Ein Sieg der Konservativen ist wahrscheinlich

Das hat mit den Demokratie-Gepflogenheiten auf EU-Ebene zu tun. Zunächst muss die konservative Europäische Volkspartei (EVP), der CDU/CSU und von der Leyen angehören, die Wahl gewinnen. Danach sieht es aus. Dann aber wird es komplizierter. Eine Mehrheit der 27 Staats- und Regierungschefs muss von der Leyen für eine zweite Amtszeit nominieren. Hat sie diese Hürde genommen, muss noch das Europäische Parlament zustimmen.

Hier hat von der Leyen beim letzten Mal eine knappe Mehrheit erzielt. Am Ende haben gerade mal neun Stimmen den Ausschlag gegeben. Die CDU-Politikerin konnte auf die Unterstützung der EVP, der sozialdemokratischen S&D und der liberalen Renew-Fraktion setzen. Und diesmal?

Die Mehrheitsverhältnisse in Europa sind in Bewegung, die Wahlen könnten einen deutlichen Rechtsruck bringen. Für von der Leyen, die als liberal gilt und im konservativen Lager mitunter als verkappte Grüne kritisch beäugt wird, ist das – zumindest auf den ersten Blick – keine einfache Ausgangslage. Und es stimmt: Die EU-Kommissionspräsidentin hat in ihrer ersten Amtszeit einiges auf den Weg gebracht, das auch der Öko-Partei gefällt. Allen voran natürlich der europäische Green Deal. Damit will von der Leyen erreichen, dass Europa bis 2050 der erste klimaneutrale Kontinent wird.

Kaum im Amt, hat sie 2019 die Pläne vorgelegt. Selbst Kritiker bescheinigen von der Leyen, ehrgeizige Ziele zu verfolgen: Die Industrie soll klimaneutral, die Artenvielfalt bewahrt und die Luft sauberer werden. Und all das, ohne Menschen mit wenig Geld spürbar zu belasten. Von der Leyen verglich den Green Deal mit der Mondlandung. Das allerdings war vor Corona, Inflation und zwei Kriegen. Die politische Großwetterlage hat sich geändert – und von der Leyen tritt längst nicht mehr als oberste Klimaschützerin auf. Eine verkappte Grüne also? Eher nicht.

EU: Umweltschutz spielt für Konservative keine große Rolle mehr

Der Sound ihrer Reden ist inzwischen ein anderer. Zuletzt ging es vor allem um Verteidigung – von der Leyen will einen eigenen Kommissar dafür –, Abwehrbereitschaft, Militär, geopolitische Risiken. Und natürlich: Wirtschaft, Arbeitsplätze, Wohlstand sichern. Das ist die Hauptaussage der EVP im Wahlkampf. Umweltschutz spielt bei den Konservativen keine allzu große Rolle mehr. In Deutschland haben CDU und CSU die Grünen zum Hauptgegner ausgerufen, auf EU-Ebene bremsen die Parteien rechts der Mitte ambitionierte Klima-Vorhaben aus.

Beispiel Agrarpolitik: Eigentlich sollte europaweit der Einsatz von Pestiziden bis 2030 halbiert werden. Unter dem Eindruck der Bauernproteste zu Beginn des Jahres wurde das kassiert. Oder das Verbrenner-Aus: CDU und CSU laufen Sturm gegen die Regelung, dass in der EU ab 2035 keine Autos mehr zugelassen werden dürfen, die Treibhausgase ausstoßen. Auch von der Leyen ist umgeschwenkt.

Was davon ist Überzeugung, wo steckt Kalkül dahinter? Welche Ideale treiben Ursula von der Leyen an?

Die EU-Kommissionschefin beweist, dass sie politisch beweglich ist. Das soll ihr eine zweite Amtszeit ermöglichen. Die Unterstützung einer Mehrheit der Staats- und Regierungschefs sollte ihr nach Lage der Dinge sicher sein. Um auch eine Mehrheit im EU-Parlament zu bekommen, flirtet von der Leyen inzwischen mit Rechtsaußen, etwa der Partei Fratelli d'Italia ("Brüder Italiens") der italienischen Ministerpräsidentin Giorgia Meloni. Politikwissenschaftler ordnen die Meloni-Partei als "postfaschistisch" ein. Für den EVP-Fraktionsvorsitzenden, den CSU-Politiker Manfred Weber, handelt es sich hingegen um "europafreundliche Konservative".

Zusammenarbeit mit rechts: Wie weit geht von der Leyen?

Ein Spiel mit dem Feuer, der eine Schritt zu weit? Sozialdemokraten und Liberale haben bereits angedroht, von der Leyen die Unterstützung zu entziehen, sollte sie rechtsaußen auf Stimmenfang gehen. Andererseits: Es wäre nicht das erste Mal, dass konservative und christdemokratische Parteien eine Schlagseite nach rechts entwickeln. Und zumindest rhetorisch hat sich Europas Rechte – die AfD mal ausgenommen – gewandelt. Weder von Meloni noch von der französischen Rechtsaußen-Politikerin Marine Le Pen hört man Forderungen, die EU aufzulösen oder die Währungsunion zu verlassen.

Gut möglich, dass Ursula von der Leyen für eine zweite Amtszeit noch mehr Abstriche am Green Deal machen muss oder die europäische Migrationspolitik weiter verschärft. Und dass sie die Mehrheit im neuen EU-Parlament am Ende doch nicht rechts sucht, sondern zunächst auf Sozialdemokraten und Grüne zugeht. Für die könnte von der Leyen noch immer das kleinere Übel sein – und die Garantie, dass der Green Deal nicht gänzlich begraben wird.

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