Zuletzt haben Apotheken aus Baden-Württemberg einen anstehenden Medikamentenmangel prognostiziert. Worauf wir uns einstellen müssen und welche Ursachen hinter dem möglichen Mangel stehen, erklärt der Chef-Apotheker des Uni-Klinikums Heidelberg, Torsten Hoppe-Tichy.

Eine Analyse
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In Deutschland hält Mitte November nach einem milden Oktober endgültig der nasse Herbst Einzug und mit ihm auch die klassische Erkältungssaison, in der Betroffene sich mit allerlei Medikamenten aus den Apotheken des Landes versorgen – sofern diese denn vorrätig sind. Denn schon Ende April hatte beispielsweise der Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte in einem offenen Brief vor einem zunehmenden Mangel an Medikamenten für Kinder gewarnt.

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Mittlerweile ist das Thema, mitunter durch die jüngsten Warnungen von Apothekern aus Baden-Württemberg inklusive eines Appells des Baden-Württembergischen Gesundheitsministers Manne Lucha (Grüne) an Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD), in aller Munde. Lucha hatte gegenüber der Deutschen-Presse-Agentur bekräftigt, dass er vom Bund Aktivitäten erwarte, um echte Engpässe in der Medikamentenversorgung zu verhindern. Ins gleiche Horn stieß unlängst die Präsidentin des Landesapothekerverbandes Baden-Württemberg, Tatjana Zambo, die dem SWR sagte, sie gehe davon aus, dass "wir im Bereich von manchen Antibiotika wieder mit Engpässen rechnen müssen".

Der Chef-Apotheker des Universitätsklinikums Heidelberg, Torsten Hoppe-Tichy, weist im Gespräch mit unserer Redaktion darauf hin, dass das Thema Medikamentenmangel eigentlich schon seit Ewigkeiten auf der Tagesordnung stehe: "Ich erinnere mich an einen europäischen Kongress im Jahr 2006, auf dem wir das Thema bereits in einem Panel mit Kollegen diskutiert haben. Und seither hat sich die Lage keinesfalls verbessert, sondern tendenziell verschlechtert."

Uni-Apotheker erklärt: Das sind die Ursachen für den Medikamentenmangel

Die Lieferengpässe, die die letzten Jahre ebenfalls ein Thema waren, beträfen nahezu alle Medikamentengruppen: "In jedem Bereich war mal ein Medikament nicht vorrätig beziehungsweise nicht lieferbar", erzählt der Apotheker. Die Engpässe hätten verschiedene Gründe: "In meinen Augen ist aber das größte Problem die Monopolisierung beziehungsweise Oligopolisierung. Darunter verstehen wir die Situation, dass bei den meisten Medikamenten nur wenige Anbieter jeweils für den Rohstoff, für die Verpackung und auch für die Herstellung zuständig sind."

Die Lage sei früher weniger dramatisch gewesen. Beim Ausfall eines Werkes habe man zumindest innerhalb Europas beispielsweise Antibiotika aus anderen Ländern importieren können. "Wenn hier eine Charge ausfiel, haben wir diese eben aus Italien geholt und den Beipackzettel übersetzt", sagt Hoppe-Tichy. Das sei heute aber nicht mehr möglich, weil es die entsprechenden Produktionsstätten nicht mehr gebe.

Dementsprechend nennt auch das Bundesgesundheitsministerium (BMG) auf Anfrage unserer Redaktion als Ursache für mögliche Engpässe bei der Arzneimittelversorgung die "Konzentration auf wenige Herstellungsstätten" neben weiteren Gründen, wie "Produktions- und Lieferungsverzögerungen für Rohstoffe" oder auch "Marktrücknahmen" und ein "signifikant verstärktes Infektionsaufkommen von zum Beispiel Atemwegserkrankungen", die zu einem erhöhten Bedarf an Antibiotika, Ibuprofen oder Paracetamol führten.

Hoppe-Tichy weist jedoch darauf hin, dass gerade bei Atemwegsinfektionen Antibiotika oft das falsche Mittel sind: "In 80 Prozent der Fälle handelt es sich bei solchen Erkrankungen um virale Infektionen, bei denen Antibiotika wirkungslos sind."

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Arzneimittel-Experte skeptisch: Europäische Zusammenarbeit als langfristige Lösung?

Während das Infektionsaufkommen eine nachgeordnete Rolle spielt, ist die Globalisierung eine der großen Ursachen, weshalb das BMG die Sicherstellung der Arzneimittelversorgung auf europäischer Ebene angehen möchte und "Anreize zum Erhalt und Ausbau der Wirkstoffproduktion in der EU" setzen will.

Der Arzneimittel-Experte Hoppe-Tichy kommentiert: "Während ich es gut und richtig finde, die europäische Zusammenarbeit anzustreben, bin ich skeptisch, was die Produktion im europäischen Kontext angeht. Das wird vor allem bei schwierig herzustellenden Produkten funktionieren."

Doch gerade bei einfach herzustellenden Medikamenten wie Ibuprofen oder Paracetamol könne die EU mit der günstigen Massenproduktion in Indien oder China nicht mithalten. Das habe man auch in der Corona-Pandemie beobachten können: "Wir haben es in Deutschland zwar geschafft, eine eigene Maskenproduktion hochzufahren. Doch als die Lieferketten wieder intakt waren, hatten wir keine Chance mehr, mit den Preisen aus dem nicht-europäischen Ausland mitzuhalten. Und dasselbe gilt für die Medikamentenproduktion."

Dass der Aufbau neuer Produktionskapazitäten in der EU ohnehin ein zeitintensives Unterfangen ist, das erheblicher finanzieller und personeller Ressourcen bedarf, weiß man auch im BMG: "Eine vollständige Rückverlagerung der gesamten Arzneimittelproduktion ist daher kein realistisches Ziel", heißt es. Doch mit dem Gesetz zur Bekämpfung von Lieferengpässen (ALBVVG) setze man auf "die Schaffung von Anreizen, Wirkstoffe für wichtige Arzneimittel in Europa herzustellen und über neue Preisgestaltungen die Lieferfähigkeit zu verbessern."

Wichtiger Faktor im Kampf gegen Medikamentenmangel: Lagerkapazitäten aufbauen

Torsten Hoppe-Tichy lobt derweil, dass in Fällen von Lieferengpässen mittlerweile zumindest ein vereinfachter Import aus anderen Ländern möglich sei. "Das verlagert das Problem aber lediglich in ein anderes Land. Und das ist wiederum ethisch sehr schwierig." Deshalb sei es gut und richtig, wenn pharmazeutische Großhändler gerade bei intensivmedizinischen Medikamenten, bei Antibiotika und Onkologika (Arzneimittel zur Behandlung von Krebs; Anm. d. Red.) ihre Produktion und Lagerkapazitäten hochfahren müssten. Erhöhte Bevorratungspflichten sind im neuen Gesetz geregelt.

"In meinen Augen ist ein gewichtiger Grund für die Arzneimittelengpässe in den letzten Jahren, dass die pharmazeutische Industrie zu wenige Vorräte schaffen musste", sagt Hoppe-Tichy dazu. "In deren Denkweise sind Lagerbestände letztlich totes Kapital. Wenn aber eine Charge ausfällt, dann kann man das nicht ausgleichen. Wir haben deshalb bei uns im Uniklinikum schon vor Jahren selbst damit angefangen, gerade bei den Medikamenten, bei denen wir uns keinen Ausfall erlauben können, einen Vorrat aufzubauen." Der Inventurwert seines Lagers habe sich in den letzten 20 Jahren mindestens verdreifacht. Eine solche Selbstvorsorge sei für niedergelassene Apotheken aber nicht leistbar, erklärt der Arzneimittel-Experte.

An der Uniklinik habe man eben die Kapazitäten, über strategische Einkäufe, mögliche geplante Ausweichstrategien und die eigene Herstellung das Problem zu umschiffen. "Ibuprofen oder Paracetamol können wir selbst herstellen – die Kollegen im niedergelassenen Bereich haben dafür aber meist keine Kapazitäten. Problematisch wird es bei uns aber beispielsweise dann, wenn Sie eine Therapie in einer Klinik anfangen, die zum Beispiel entsprechende Antibiotika beinhaltet. Dann werden sie entlassen und das Antibiotikum ist im niedergelassenen Bereich nicht verfügbar. Das kann große Probleme nach sich ziehen."

Bundesgesundheitsministerium: Mit dem 5-Punkte-Plan durch Herbst und Winter

Besonders schlimm seien Lieferengpässe, die patentgeschützte Medikamente beträfen. "Wir hatten im letzten Jahr Probleme in der Onkologie. Wenn es nur ein zwei Firmen gibt, die ein spezifisches Medikament für die Krebstherapie herstellen, und es dann zu Engpässen kommt, ist das eine Katastrophe. Vor allen Dingen für die Patienten – sowohl physisch als auch psychisch", erzählt der Apotheker.

Dementsprechend sieht das neue Gesetz der Bundesregierung auch die Einrichtung eines Frühwarnsystems beim Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) vor, um drohende versorgungsrelevante Lieferengpässe frühzeitig zu erkennen und gegensteuern zu können. Im 5-Punkte-Plan des BMG zur Sicherung der Versorgung mit Kinderarzneimitteln im Herbst/Winter 2023/24 werden außerdem regelmäßige Situationsanalysen mit den zugehörigen Pharmaunternehmen vereinbart.

Das BMG sieht sich gut auf den Herbst und Winter 2023/24 vorbereitet: "Wir werden in diesem Herbst und Winter alles dafür tun, dass Kinder die Arzneimittel bekommen, die sie benötigen. Wir sind deutlich besser aufgestellt, als im letzten Jahr", so Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbauch auf der Pressekonferenz zur Versorgungslage von Kinderarzneimitteln im September.

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Der erste Besuch von Präsident Erdogan in Deutschland seit fast vier Jahren steht im Zeichen des Gaza-Kriegs und Erdogans Attacken gegen Israel. Ihre unterschiedlichen Positionen tragen die beiden offen zur Schau. Sie betonen aber auch gemeinsame Interessen. (Photocredit: picture alliance/dpa/Bernd von Jutrczenka)

Medikamentenmangel: Bundesgesundheitsminister mit Appell an Bevölkerung

Neben den bereits erwähnten Antibiotika könnte es laut Hoppe-Tichy aber auch zu einem Mangel an Fiebersäften für Kinder kommen: "Ich unterschreibe gerade deshalb Karl Lauterbachs Appell, keine Hamsterkäufe zu tätigen", sagt der Apotheker. Der Gesundheitsminister und sein Ministerium appellieren in ihrem 5-Punkte-Plan gemeinsam mit Kinder- und Jugendärzten sowie Hausärzten an Eltern, "keine unnötigen Vorräte an Kinderarzneimitteln zu horten".

Darüber hinaus unterstütze die Bundesregierung in gemeinsamer Absprache mit der Ärzteschaft und Apothekerschaft sowie den Pharmafirmen eine "sachlich-realistische Kommunikation, um unnötige Bevorratung zu vermeiden. Besonnenes Handeln aller Akteurinnen und Akteure wirkt Engpässen in der Arzneimittelversorgung entgegen", heißt es in dem Papier.

Mit diesem Appell will die Bundesregierung offenbar sogenannte selbsterfüllende Prophezeiungen vermeiden, die sich unter anderem in der Corona-Pandemie niedergeschlagen hatten. Eine ursprünglich falsche Situationswahrnehmung zieht in solchen Fällen ein Verhalten nach sich, das die ursprünglich falsche Situationsdefinition richtig werden lässt. So hatte beispielsweise die falsche Wahrnehmung eines akuten Klopapiermangels zu Hamsterkäufen geführt, die wiederum einen tatsächlichen Klopapiermangel nach sich zogen. Solche Prozesse sollen im Bereich der Medikamentenversorgung unbedingt vermieden werden.

Uni-Apotheker Hoppe-Tichy: "Ich hoffe wirklich, dass uns das erspart bleibt"

Neben der Verantwortung der Konsumenten, auf die Karl Lauterbach setzt, verweist Experte Hoppe-Tichy wiederum auf die besondere Rolle und Verantwortung der Pharmaindustrie. Auch deren Selbstverständnis habe sich in den letzten Jahrzehnten verändert.

"Ich hatte vor gut 30 Jahren ein Gespräch mit einem Pharmavertreter, der mir erklärte, dass die Pharmaindustrie sich wesentlich von anderen, beispielsweise der Automobilindustrie, unterscheide. Er meinte, er würde auch Produkte herstellen, die sich finanziell nicht rechneten, weil sie nur für eine sehr geringe Anzahl an Menschen überhaupt relevant seien. Diese ethische Rolle der Pharmaunternehmen ist heutzutage in meinen Augen nicht mehr zu sehen. Eine rein marktwirtschaftliche Regelung des Problems ist deshalb auch sehr schwierig", sagt der Apotheker.

Weil aber gerade die Medikamente Ibuprofen und Paracetamol ohne größere Probleme austauschbar und auch in der Herstellung weniger kompliziert seien, sehe er gerade für Kinder im anstehenden Herbst und Winter weniger Probleme. "Wenn es aber um ein Medikament geht, das nur von einem Hersteller produziert wird, und es gibt ein halbes Jahr lang einen Lieferengpass, dann ist das ein großes Problem. Gerade, wenn es sich dabei dann um solch sensible Medikamente wie Onkologika handelt. Wenn man so etwas seinen Patienten kommunizieren muss, dann macht das etwas mit den Menschen. Ich hoffe wirklich, dass uns das erspart bleibt."

Über den Gesprächspartner:

  • Dr. Torsten Hoppe-Tichy leitet als Chefapotheker die Apotheke des Universitätsklinikums Heidelberg (UKHD). Er ist ferner Mitglied der Kooperationseinheit Klinische Pharmazie, welche die Lehre im Fach Klinische Pharmazie sicherstellt. Im Rahmen der Lehrtätigkeit ist er verantwortlich für die Felder Pharmakoökonomie und Klinische Pharmazie. Er ist Fachapotheker für Klinische Pharmazie und Pharmazeutische Analytik. Für den Herstellbetrieb des UKHD übernimmt er die Position als Qualified Person. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen Pharmakokinetik von Antiinfektiva, Pharmakoökonomie und Arzneimitteltherapiesicherheit.

Verwendete Quellen:

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