Seit Jahrzehnten ist der Osten Deutschlands von Abwanderung geprägt. Vor allem junge Menschen kehrten der Region den Rücken. Julia Jannaschk hat das genaue Gegenteil gemacht. Sie ist von Berlin in ein kleines Dorf in der sächsischen Lausitz gezogen. Warum hat sie sich so entschieden und wie kann der Osten attraktiver werden für junge Menschen und Familien?

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"Diese Stadtgeräusche, eine gewisse Enge. Hektik." Julia Jannaschk weiß noch genau, wie es ist, morgens in Neukölln aufzuwachen. Vor zehn Jahren ist die Journalistin in die Hauptstadt gezogen, arbeitet dort bei einem jungen Nachrichtenportal. Gerade für Journalisten ist Berlin wichtig. Nicht nur, weil hier viele Medienhäuser ihren Sitz haben, sondern weil hier alle ihren Sitz haben. Die Wege zu Gesprächspartnern sind kurz.

Auch alle anderen Wege in Berlin sind kurz: Klamotten, Restaurants, Supermärkte, Ärzte, Kultur, Sport. Berlin ist vielfältig und voll und damit bequem, gerade für junge Menschen. Berlin ist aber auch das, was man hört, wenn man morgens aufwacht: Autos, Hupen, Baulärm, Sirenen, Gedränge, Menschen, S-Bahnen, Musik, Geschrei. Eben "diese Stadtgeräusche". Geräusche, die entscheiden können, wie der Tag wird. Bei Julia Jannaschk haben diese Geräusche entschieden, wie ihr Leben wird.

"In Berlin wird ja immer geknallt."

Julia Jannaschk

"Ich komme vom Ländlichen und eigentlich wollte ich schon ganz, ganz lange wieder raus", erzählt Jannaschk. Der Wunsch, Berlin wieder den Rücken zu kehren, sei lange in ihr gereift, aber es sind nicht nur die Geräusche und die Rückkehr zu ihren Wurzeln, die sie raus aus der Stadt treiben. "Was Berlin ausmacht, kann man nicht mehr so gut nutzen mit Kind", erklärt die 36-Jährige, die mit ihrem Mann eine vierjährige Tochter hat. "Spielplätze voller Spritzen und verbuddelter Drogen ist jetzt auch nicht so das Wahre."

Es sei immer schlimmer geworden in Berlin mit der Drogenproblematik und auch sonst stellt sich Jannaschk das Aufwachsen ihrer Tochter anders vor, besser. Nicht zwischen Müll und Scherben und in der Angst, das Kind könnte vom Rad genau da rein stürzen. Und da ist noch jemand, für den sich Jannaschk ein besseres Leben wünscht: ihr Hund. Der sei aus dem Tierschutz und erschrecke immer, wenn es knallt. Und "in Berlin wird ja immer geknallt", sagt sie. "Dem Hund hatte ich auch immer versprochen, dass er einen Garten kriegt – und das habe ich gehalten."

Denn irgendwann in diesem Jahr wird die Sehnsucht nach einem Leben auf dem Land für Jannaschk und ihre kleine Familie ganz konkret, der Wunsch zu einem Entschluss: "Nächstes Jahr sind wir nicht mehr in Berlin." Dann spielt auch noch der Zufall mit, denn im Heimatdorf ihres Mannes steht ein Haus zum Verkauf, ganz in der Nähe der Schwiegereltern. Im Juni geht es dann endlich raus aus Neukölln und der zu klein gewordenen Wohnung und raus aufs Land. Ein 600-Seelen-Dorf in der Lausitz bei Hoyerswerda in Sachsen.

Stadt, Land, Flucht

Julia Jannaschk und ihre Familie sind nicht die einzigen, die es raus aus der Großstadt zieht. So erklärte das Bundesamt für Bevölkerungsentwicklung im Dezember 2022, dass die Zahl der Fortzüge aus den kreisfreien Großstädten in kleinere Städte und in ländliche Regionen im Vergleich zu 2019 um 1,8 Prozent angestiegen sei. Gleichzeitig sei die Zahl der Menschen, die in Großstädte zogen, um 5,4 Prozent gesunken. Der sogenannte Binnenwanderungssaldo der Großstädte liegt demnach auf einem Niveau wie zuletzt in den 1990er-Jahren.

2021 seien vor allem 30- bis 49-Jährige (plus 3,7 Prozent im Vergleich zu 2019) sowie Minderjährige (plus 8,9 Prozent) aus den Großstädten weggezogen. Damit habe sich die Abwanderung von Familien ins Umland, die man schon vor der Pandemie beobachten konnte, 2021 weiter verstärkt. Mögliche Gründe: Wohnraumknappheit und steigende Preise. So war es auch bei Julia Jannaschk. Neben dem Wunsch, zu ihren ländlichen Wurzeln zurückzukehren, wurde es mit der Geburt der Tochter auch einfach zu eng in Berlin und ein Umzug in eine größere Wohnung wäre zu teuer gewesen.

"In Bayern hab ich tatsächlich auch geguckt, weil ich das auch schön gefunden hätte, aber das kann man ja wirklich vergessen", erzählt Jannaschk über die Haussuche in ihrer alten Heimat. Der Preis sei das eine, das andere, was man für diesen Preis dann dort bekomme. Nun hat Jannaschk ein Haus in der Lausitz. Mit einem Garten, in den schon die Hühner eingezogen sind. Und sie ist glücklich mit der Entscheidung. "Man hat schon andere Ausgaben mit einem Haus, auch um den Garten herzurichten. Aber wenn ich mir überlege, wir wären in Berlin umgezogen und müssten nun die dann doppelt so hohe Miete zahlen – da komme ich hier mit meiner Kreditrate günstiger, wenn alles renoviert ist. Und ich hab dann ein Haus."

Julia Jannaschk Hühnerstall
Die Hühner sind schon eingezogen: der selbstgebaute Hühnerstall. © Julia Jannaschk

Von Ost nach West: Der Trend verebbt, die Probleme nicht

Der generelle Trend, von der Großstadt ins Umland oder gar aufs Land zu ziehen, ist aber nur ein Teil der Wahrheit. Gerade in Ostdeutschland. 1990 lebten in Westdeutschland etwa 62 Millionen Menschen und damit viermal so viele wie in Ostdeutschland mit seinen etwa 15 Millionen Einwohnern. In den vergangenen 30 Jahren haben sich die Bevölkerungszahlen in Ost- und West ganz unterschiedlich entwickelt. Bis 2022 ist die Einwohnerzahl im Westen um 10 Prozent auf 68 Millionen gewachsen, im Osten hingegen um 15 Prozent auf 12,6 Millionen gesunken. Damit leben heute nicht mehr viermal, sondern fünfmal so viele Menschen in Westdeutschland wie in Ostdeutschland.

Die Gründe für diese Verteilung sind vielfältig. Geburten, Sterbefälle, aber auch Wanderungsbewegungen spielen eine Rolle und gerade hier gibt es einen interessanten Effekt. Insgesamt wanderten zwischen 1991 und 2022 etwa 1,2 Millionen Menschen mehr von Ost nach West als umgekehrt. Knapp die Hälfte dieser Abwanderung aus dem Osten gab es in den ersten zehn Jahren nach der Wiedervereinigung, dann gingen die Zahlen langsam zurück. Bis 2000 verließen im Saldo etwa 611.000 Menschen den Osten, bis 2010 waren es noch rund 553.000 Menschen und zwischen 2011 und 2022 nur noch 52.000 Menschen. Seit 2017 wandern jährlich sogar etwas mehr Menschen von West- nach Ostdeutschland als umgekehrt.

Aber: Die Abwanderung vom Osten in den Westen war vor allem eine Abwanderung der Jungen. Im Saldo gingen seit der Wiedervereinigung insgesamt mehr als 730.000 Menschen unter 25 Jahre in den Westen, im Alter von 25 bis 65 Jahren waren es rund 490.000 Menschen. Der Anteil an Senioren ist mit 6.000 Menschen gering. Doch auch wenn es bei den Wanderungsbewegungen eine Trendwende zu geben scheint – die Probleme sind geblieben. Für die Menschen vor Ort und für die Wirtschaft im Osten bedeutet das: eine Überalterung der Gesellschaft, wenn auch mit großen regionalen Unterschieden, Fachkräftemangel und der Umstand, dass gut ausgebildete Zuwanderer aus der EU lieber in den Westen ziehen oder nach Berlin.

Leben auf dem Land: viele Vorteile, aber auch Bedenken

Warum also hat es Julia Jannaschk nach Sachsen und in die Lausitz verschlagen? Ein Grund war natürlich die Unterstützung durch die Schwiegereltern, für die jede junge Familie dankbar ist. Trotzdem gab es auch Zweifel. "Ich wollte zuerst nicht nach Sachsen", gesteht Jannaschk. "Es ist von der Natur her eigentlich nicht so meins, einfach, weil ich ja aus den Bergen komme." Berge wie die Alpen gibt es in der Lausitz tatsächlich nicht, aber Jannaschk hat die Natur dort trotzdem schätzen gelernt. Zwar liegt ihr Dorf noch im Bergbaugebiet, dafür gebe es aber sehr viele Seen. "Es ist ein schönes, kleines Dorf", sagt sie. "In Berlin habe ich ab und an mit dem Kind einen Ausflug gemacht, aber hier ist man viel mehr in der Natur."

Auch die sorbische Kultur habe sie schon immer spannend gefunden. Überhaupt gebe es ein größeres Freizeitangebot, als sie gedacht hatte. Im Dorf selbst gibt es einen Chor und die Möglichkeit, Volleyball zu spielen. "Es gibt einige Kultureinrichtungen, die sich echt viel Mühe geben. Ich habe schon das Gefühl, dass es viele engagierte Menschen hier gibt", erzählt Jannaschk, die sich mit dem Umzug in die Lausitz außerdem noch einen Traum erfüllen konnte: "Ich habe jetzt ein Pflegepferd."

eine Alpenrepublik

In ein Nachbarland zieht es die meisten deutschen Auswanderer

Die meisten deutschen Auswanderer zieht es in eine Alpenrepublik. Das statistische Bundesamt vermutet dahinter die fehlenden Sprachbarrieren und die räumliche Nähe.

Das Contra auf der Pro-und-Contra-Liste, die sie mit ihrem Mann in Berlin geschrieben hat, war also gar nicht so lang. Einen Punkt gab es allerdings noch, den Jannaschk kurz und knapp beschreibt: "So viel rechts." In Sachsen liegt die AfD, die das sächsische Landesverfassungsgericht als gesichert rechtsextrem eingestuft hat, in den Umfragen vor den sächsischen Landtagswahlen auf dem zweiten Platz. Im Stadtrat von Hoyerswerda stellt sie bereits die stärkste Fraktion. Momentan gibt es zwar noch einen Oberbürgermeister von der SPD, aber Jannaschk hat sich bereits Gedanken über die Zukunft gemacht: "Na super, wenn du jetzt von Rechtsradikalen regiert wirst, willst du das wirklich?"

Auch die Wirtschaft sorgt sich vor den Rechten

Rechtsextreme Regierungen als Standortnachteil – mit dieser Sorge ist Jannaschk nicht alleine. Auch die Wirtschaft sorgt sich vor den kommenden Landtagswahlen. So schreibt das Institut der deutschen Wirtschaft in Köln (IW) über Sachsen, Thüringen und Brandenburg, dass sich diese drei Bundesländer bei der Arbeitslosigkeit und steigenden Löhnen gut entwickelt hätten, doch werde diese positive Entwicklung nicht wahrgenommen. Populisten würden diese Diskrepanz zwischen Wahrnehmung und Wirklichkeit für sich ausnutzen – mit Schäden für die Wirtschaft.

Als Beispiele nennt das IW die Haltung der AfD und ihrer Anhänger gegen den Ausbau erneuerbarer Energien. Auch die Stimmung der AfD gegen Zuwanderung sieht das Institut sehr problematisch. Denn die ostdeutsche Wirtschaft sei darauf abgewiesen, dass Arbeitskräfte aus dem Ausland kommen. Der Anteil ausländischer Beschäftigter an der Bruttowertschöpfung habe 2023 in den ostdeutschen Bundesländern bei 5,8 Prozent oder 24,6 Milliarden Euro gelegen. Noch. Denn wer möchte schon in einem Land die Wirtschaft am Laufen halten, in dem ihm Ablehnung und Hass entgegenschlagen? Doch Stimmung gegen Ausländer ist nicht das einzige Eigentor, das Rechtsextreme und Rechtspopulisten ihrem Land schießen.

So kommt auch die Wirtschaftskompetenz der AfD bei Vertretern der Wirtschaft schlecht weg, wird die Partei selbst als "systemfeindlich und systemgefährdend" angesehen. Die Präsidentin des wichtigen Verbandes der Automobilindustrie (VDA), Hildegard Müller, warnte Anfang des Jahres in einem Gastbeitrag für den "Focus" ausdrücklich vor "Populisten und Scharfmachern wie der AfD". Müller schreibt dort: "Das Programm der AfD würde in der Umsetzung einen massiven Wohlstandsverlust bedeuten – für jeden Einzelnen –, übrigens ganz besonders für die Menschen, die eher kleinere und mittlere Einkommen haben. Die AfD ist keine Partei für die 'kleinen Leute', wie sie von sich selbst immer wieder gerne behauptet. Wer über die AfD Protest ausdrücken möchte, bekommt wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Abstieg als Antwort."

Sich gegenseitig guttun

Die Sorge vor Rechtsextremen treibt also nicht nur Familien wie die von Jannaschk um, sondern auch Unternehmen. Die junge Mutter ist trotzdem nach Sachsen gezogen, ganz bewusst: "Auf der anderen Seite ist es cool, wenn mal ein paar Leute herziehen, die ein bisschen anders denken oder eine andere Sicht auf die Dinge haben. Ich kenn das auch aus Bayern: Ein paar Zugezogene tun einem Ort immer ganz gut." Jannaschk will den Leuten Gutes tun, glaubt aber auch, dass die Leute ihr guttun: "Ich fand's auch cool, aus meiner Bubble in Berlin rauszukommen." Hier habe sie eine ganz andere Möglichkeit, als Journalistin etwas zu bewegen. Jannaschk arbeitet nun als Lokalreporterin, kann näher am Menschen sein und berichten, "was Relevanz für die Menschen in ihrem Alltag hat".

Eines dieser Themen könnte der Ärztemangel auf dem Land sein, und der hat auch Relevanz für sie. "Es gibt drei Kinderärzte und es kann keiner mehr aufnehmen, weil die alle so voll sind." Bei anderen Ärzten sehe es nicht besser aus. Ein Problem, das man in Sachsen kennt – und das man anzugehen versucht. So gibt es inzwischen das Programm "Landärzte für Sachsen". Seit dem Wintersemester wird im Freistaat ein Anteil von 6,5 Prozent der Medizin-Studienplätze und des Modellstudienganges Humanmedizin an angehende Hausärzte vergeben, die insbesondere auf dem Land arbeiten wollen. Im Gegenzug verpflichten sich die Studierenden dazu, mindestens zehn Jahre als Vertragsarzt in einem Gebiet zu arbeiten, in dem die Kassenärztliche Vereinigung Sachsen einen besonderen Bedarf sieht.

Bis die ersten Ärzte des "Landärzte-Programms" dann wirklich in Hoyerswerda und dem Umland ihre Praxen eröffnen, dürften noch ein paar Jahre vergehen. Aber es sind nicht nur die freien Arzttermine, die Jannaschk im Vergleich zu Berlin fehlen: "Der öffentliche Nahverkehr ist echt nicht gut." Man könne zwar mit dem Rad zum Supermarkt fahren, "aber das ist schon ein Stück". Die einzige Alternative ist das Auto. Das habe sie in Berlin nie gebraucht, sie muss sich jetzt umgewöhnen. So wie beim Essen. Das braucht jetzt ein bisschen mehr Planung. Mal eben um 22 Uhr zum Späti, das geht nicht mehr. Auch in puncto Kulinarik muss sie Abstriche machen: "Das Restaurant-Angebot ist nicht so groß, aber es gibt etwas."

"Ich habe Berlin noch keine Sekunde vermisst."

Julia Jannaschk

Statt Restaurants und Lieferdiensten sind andere Dinge im Alltag wichtiger geworden. "Ich bin auf jeden Fall viel, viel mehr draußen, weil ich im Hof etwas mache oder gärtnere. Und ich lebe ein bisschen mehr nach dem Rhythmus des Tages und der Natur. Vielleicht, weil man viel mehr mitbekommt von draußen." In Berlin musste sie abends in der Wohnung bleiben, wenn das Kind schlief. Jetzt geht sie am Abend noch raus in den Garten und hat ihre Tochter trotzdem noch im Blick, wenn die nebenan im Bett liegt. Zurück nach Berlin will Jannaschk deshalb nicht mehr – und wenn, dann nur zu Besuch: "Wenn ich mal in Berlin bin, ist es schön und wir genießen das Angebot. Aber ich habe Berlin noch keine Sekunde vermisst."

Es sind jetzt andere Geräusche, die Julia Jananschk hört, wenn sie morgens aufwacht. Vogelgezwitscher oder die Nachbarn, die schon auf dem Friedhof unterwegs sind und tratschen. Oder einen Hahn, der kräht. "Man kann so ein bisschen freier atmen, man hat mehr Platz", versucht Jannaschk ihr neues Lebensgefühl zu beschreibe. Und dieses Gefühl gefällt ihr: "Ja, ich bin jetzt glücklicher." Und noch etwas ist anders als in Berlin: Morgens geht Jannaschk nicht mehr an Müll vorbei oder über Scherben, sondern in den Garten. Barfuß.

Verwendete Quellen

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