Nach über einem Jahr Krieg zwischen Israel und der Hisbollah im Libanon haben die USA eine Waffenruhe vermittelt. Nahost-Experte Stefan Jakob Wimmer erklärt im Interview, warum das Abkommen kein "Gamechanger" ist und unter welchen Umständen die Lage sogar noch weiter eskalieren könnte.

Ein Interview

Web.de: Israel und die Hisbollah haben sich nach über einem Jahr an Kämpfen auf eine Waffenruhe geeinigt. Ist das jetzt der „Gamechanger“ auf dem Weg zur langfristigen Deeskalation?

Mehr News zum Krieg in Nahost

Wimmer: Das ist schwer vorherzusehen. Es gibt zwei Szenarien. Die Einigung könnte einerseits zu einer weiteren Eskalation beitragen, weil jetzt ein wichtiger Verbündeter der Hamas ruhiggestellt wurde, jedenfalls vorübergehend. Schon als die Hamas die Terrorinvasion begonnen hat, soll sie damit gerechnet haben, dass die Hisbollah mit iranischer Hilfe sehr viel stärker eingreift.

Das war nicht der Fall.

Genau, aber die Hisbollah hat doch kontinuierlich die ganze Zeit, über ein Jahr lang, Israel immer wieder attackiert. Gerade jetzt in den letzten Tagen hat sie mehrere hundert Raketen am Tag geschossen, auch ins Zentrum des Landes. Das ist also schon ein erheblicher Faktor.

"Auch Abkommen zu Gaza möglich"

Warum könnte das zu mehr Eskalation führen?

Netanjahu hat jetzt wieder Kräfte zur Verfügung, die im Libanon gebunden waren. Diese könnte er jetzt verstärkt in Gaza einsetzen, sodass die Lage dort noch sehr viel schlimmer werden könnte.

Was ist das andere Szenario?

Nachdem die Hisbollah-Unterstützung nun wegbricht und nachdem auch Hamas-Anführer Yahya Sinwar tot ist, könnte man sich vorstellen, dass die Hamas zu weitreichenderen Zugeständnissen bereit ist und vielleicht für das Überleben einiger Hamas-Leute jetzt weiter auf israelische Forderungen eingeht, und Geiseln freilässt. Dann wäre auch ein Abkommen zu Gaza möglich.

Was gewinnt die israelische Seite durch ihre plötzliche Kompromissbereitschaft. Was steckt dahinter?

Netanjahu hat interessanterweise angegeben, dass Druck durch US-Präsident Joe Biden dahinterstecken würde. Zumindest hat er es vor seinen rechtsextremen Anhängern so dargestellt, als wäre er zu Zugeständnissen gezwungen worden. Das haben die USA allerdings sofort dementiert. Es ist von außen schwer zu durchschauen, aber es steckt in jedem Fall Kalkül dahinter.

Ein innenpolitisches?

Es gibt in diesem Konflikt jedenfalls zwei Gewissheiten, die feststehen. Die eine ist: Netanjahu verfolgt nichts anderes als seine eigenen Interessen. Es ging ihm noch nie um den Staat Israel, um Geiseln oder um Friedensabkommen, sondern ausschließlich um seine eigenen persönlichen Interessen. Die werden auch in der jetzigen Situation dahinterstecken.

Trump als letzte Hoffnung?

Welche ist die andere Gewissheit?

Die amerikanische Regierung wird sich in ein paar Wochen dramatisch verändern, wenn Trump wieder ins Weiße Haus zurückkehrt. Als er das letzte Mal Präsident war, hat er Netanjahu nahezu völlig freie Hand gegeben. Es gab nur dann Einschränkungen, wenn Trump sich persönlich mit Netanjahus Reaktionen unwohl gefühlt hat – ein bisschen wie ein trotziges Kind. Wenn nicht alles so läuft, wie Trump es wollte, dann konnte er auch mal blockieren und konnte auch mal Nein sagen. Aber wenn Netanjahu jetzt wirklich freie Hand bekommt, könnte der Konflikt noch sehr viel stärker eskalieren, als wir es uns jetzt vorstellen können.

Was bedeutet das für die jetzige Situation?

Es wäre fast die einzige Hoffnung, die es derzeit noch für den Israel-Palästina-Konflikt gibt: Dass es auch Trump irgendwann zu viel wird und er Netanjahu irgendwann ausbremst – und sei es aus infantilen Trotzreaktionen heraus.

Welches der beschriebenen Szenarien halten Sie derzeit für am wahrscheinlichsten?

Deeskalation ist das weniger wahrscheinliche Szenario. Und zwar deshalb, weil Netanjahu den Konflikt für sein eigenes politisches Überleben braucht. Gleichzeitig wissen wir nicht, ob die Einigung mit der Hisbollah Bestand hat. Es geht erstmal nur um eine Waffenruhe für 60 Tage. Netanjahu hat bereits betont, dass der Krieg nicht zu Ende ist. Wenn es mit der Hamas eine Einigung geben sollte, müsste er dafür sorgen, dass der Konflikt mit der Hisbollah wieder weitergehen würde.

"Netanjahus Rechnung geht auf"

Macht die israelische Bevölkerung das mit?

Netanjahu hat nach dem 7. Oktober verständlicherweise dramatisch an Rückhalt verloren. Er hat aber durch die Schläge gegen die Hisbollah auch wieder enorm an Zuspruch gewonnen. Dazu zählen zum Beispiel die spektakuläre Pager-Aktion und die Tötung von Hisbollah-Führer Hassan Nasrallah. Das sind aus israelischer Sicht dramatische Erfolge, die sofort dazu geführt haben, dass Netanjahu in den Umfragen wieder nach oben geschnellt ist. Wenn jetzt Wahlen wären, würde er vermutlich wieder gewählt werden. Seine Rechnung geht also wieder einmal auf.

Worauf kommt es jetzt an?

Es ist enorm wichtig, dass es sich nicht nur um eine vorübergehende Waffenruhe handelt. Bereits jetzt wird sie nicht zu 100 Prozent eingehalten, Israel hat weiter auf libanesisches Gebiet geschossen. Dabei braucht die Region, brauchen die Menschen, eine tragfähige Lösung. Für den Israel-Palästina-Konflikt ist das enorm schwierig, aber für den Libanon scheint es möglich, weil es dort keine gegenseitigen territorialen Ansprüche gibt.

Was müsste dafür sichergestellt werden?

Dass die Hisbollah damit aufhört, das Nachbarland zu bedrohen und Israel nicht wieder im Libanon eingreift. Wahrscheinlich braucht es internationalen Druck dafür, auch auf das iranische Regime. Aber hier haben wir eine Chance, zumindest auf der libanesischen Seite des Konflikts für dauerhafte Ruhe sorgen zu können.

Über den Experten:

  • Prof. Stefan Jakob Wimmer lehrt an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Ludwig-Maximilians-Universität München. Er ist Professor am Institut für Ägyptologie und Koptologie, Fachreferent für Hebraica an der Orient- und Asienabteilung der Bayerischen Staatsbibliothek und Vorsitzender der Freunde Abrahams - Gesellschaft für religionsgeschichtliche Forschung und interreligiösen Dialog.
JTI zertifiziert JTI zertifiziert

"So arbeitet die Redaktion" informiert Sie, wann und worüber wir berichten, wie wir mit Fehlern umgehen und woher unsere Inhalte stammen. Bei der Berichterstattung halten wir uns an die Richtlinien der Journalism Trust Initiative.