Hamas-Terroristen haben sich am 7. Oktober die Smartphones von Opfern und Geiseln genommen und haben damit live gestreamt. Das ist eine perfide Form der psychologischen Kriegsführung, sagt der Schweizer Militärpsychologe und Oberst Hubert Annen. Doch es gibt eine zweite Variante der psychologischen Kriegsführung, die noch gefährlicher ist, was auch die NATO für sich erkannt hat.

Eine Analyse
Dieser Text enthält eine Einordnung aktueller Ereignisse, in die neben Daten und Fakten auch die Einschätzungen von Clemens Sarholz sowie ggf. von Expertinnen oder Experten einfließen. Informieren Sie sich über die verschiedenen journalistischen Textarten.

7. Oktober 2023. Der Angriff der Hamas bestimmt die Schlagzeilen, die Nachrichtensendungen, das Radio. Tausende bangen um ihre Angehörigen, Freunde oder Bekannte, die möglicherweise Opfer des Terrors geworden sind. Auf Anrufe und Nachrichten reagieren sie nicht. Funkstille. Dann der Blick aufs Handy: Instagram-Liveschalte.

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Ein Hoffnungsschimmer, der im Schrecken endet. Denn statt des erwarteten Freunds blickt ein vermummter Hamas-Kämpfer in die Kamera. Diese Szene hat so stattgefunden. Mehrfach wurde über diesen Psychoterror berichtet. Laut Presseberichten riefen die Hamas-Kämpfer auch Freunde und Verwandte an, um sie zu bedrohen oder zu verspotten.

Es ist eine Kriegsführung, die es so noch nicht lange gibt. Hubert Annen, Professor für Militärpsychologie und Oberst der Schweizer Armee erklärt, dass durch die "technischen Möglichkeiten neue Dimensionen der Kriegsführung" entstehen. Die Beispiele, dass Hamas-Kämpfer sich die Handys der Opfer nehmen, um auf deren Social Media Kanälen Livevideos zu veröffentlichen, sei eine besonders perfide Form der psychologischen Kriegsführung, mit der man die Moral des Gegners angreifen möchte. "Sie bringen den Terror so in unser Schlafzimmer, um uns das Gefühl der Sicherheit und Überlegenheit zu nehmen." Es habe eine sehr große psychologische Wirkung und schwäche die Moral und den "Glauben an die eigenen Werte."

Hamas nutzt Bilder der Toten für die eigene Propaganda

Diese Form der Kriegsführung ist eine Art von Propaganda, die sich im Laufe der Zeit weiterentwickelt hat. Das erste Ziel von Propaganda sei es, sagt Annen, den Widerstandswillen der Bevölkerung zu stärken, das zweite Ziel sei es die Wahrnehmung des Gegners zu verändern. "Ein Informationskrieg mit dem Ziel den Gegner zu täuschen, Unsicherheit zu schaffen und das Bewusstsein der Bevölkerung zu manipulieren."

Während die Taktik die Angehörigen anzurufen, oder Livestreams zu teilen ein schrecklicher Eingriff in die Privatsphäre der Opfer und der Angehörigen ist, ist die zweite Komponente, nämlich die Wahrnehmung des Gegners zu verändern, die strategisch gefährlichere. Im Informationskrieg nutzt die Terrororganisation Hamas die Bilder der Toten für die eigene Propaganda um Israel als kolonialen Besatzer und grausamen Kriegsverbrecher darzustellen.

In Internetforen und Plattformen wie X, TikTok, Telegramm oder Reddit ist die Verbreitung von Fake News, Bildern, Videos und Audiodateien seit dem 7. Oktober stark angestiegen. Auf pro-palästinensischer, sowie auf pro-israelischer Seite werden Deep Fakes und Fake News verbreitet, um die Deutungshoheit über den Konflikt für sich zu gewinnen.

Die Fake-Beiträge zeigen unter anderem palästinensische Kinder, die bombardiert werden und um ihr Leben rennen oder ein Video des Supermodels Bella Hadid, die über 60 Millionen Follower auf Instagram hat und deren Vater Palästinenser ist, die sich auf die Seite der Israelis stellt.

"Der gesamte Terrorismus basiert auf Psychologie"

Dazu muss man sagen, dass es die Propaganda der Hamas, militärökonomisch betrachtet, allein zahlenmäßig wesentlich einfacher hat. Während auf der Erde knapp 2 Milliarden Muslime leben, die über die Medien erreichbar sind, bekennen sich lediglich etwa 15 Millionen Menschen zum jüdischen Glauben.

Aus Militärbeobachterkreisen heißt es, dass es für die Hamas und andere terroristische Organisationen kein Problem sei, in den nächsten Jahren tausende Kämpfer zu rekrutieren.

Dem pflichtet auch der Leiter des palästinensischen Büros der Konrad-Adenauer-Stiftung in Ramallah, Steven Höfner, bei. Er geht davon aus, dass die Emotionalisierung des Konflikts weltweit zu steigenden Radikalisierungstendenzen führt, insbesondere mit Bezug zum religiösen Fundamentalismus.

Zudem sagt Höfner: "Der gesamte Terrorismus basiert auf Psychologie." Der Angriff der Hamas habe nicht das Ziel gehabt, Israel zu überrennen, sondern das Land so heftig zu provozieren, dass es nur mit sehr drastischen Mitteln zurückschlagen könne.

Hamas scheint ihre Zeile teilweise erreicht zu haben

In Deutschland sei die öffentliche Diskussion noch stark auf das Selbstverteidigungsrecht der Israelis ausgerichtet, in anderen Staaten gehe es allerdings nur um das Leid der Zivilbevölkerung im Gaza. Das müsse "natürlich Raum einnehmen, aber das ist von der Hamas auch so kalkuliert", sagt Höfner. Die Hamas scheint damit ihre Ziele zumindest teilweise erreicht zu haben.

Das geht aus einer internen Analyse der Bundeswehr vom 17. November hervor, die dem Business Insider vorliegt. Laut dem Zentrum Operative Kommunikation (OpKom) scheine es der pro-palästinensischen Seite "zunehmend zu gelingen, den Fokus der regionalen und internationalen Öffentlichkeit gezielt auf das Leid der von den Kampfhandlungen betroffenen Zivilbevölkerung im Gaza-Streifen zu richten."

Dieses Vorgehen ermögliche es wahrscheinlich, "die Aufmerksamkeit von der Hamas als Ursache für die zahlreichen zivilen Opfer und die massiven Schäden an zivilen Infrastrukturen abzulenken und Israel als alleinigen Täter in der Wahrnehmung der Medienrezipienten erscheinen zu lassen.

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Der Informationskrieg heute ist eine fortschrittliche Form der Manipulation

"Die Hamas schert sich nicht um das Völkerrecht und nutzt alle erdenklichen Mittel, um die technisch-militärische Überlegenheit der auszugleichen", sagt der Militärpsychologe Annen. Es sei ein riesiger Aufwand für ein konventionelles Militär gegen einen Gegner zu kämpfen, dem die Werte völlig egal seien.

Mittlerweile sieht man jedoch, dass das israelische Militär handlungsfähiger geworden ist und seine Methoden im Informationskrieg angepasst hat. So gibt es beispielsweise auf YouTube Videos, in denen der Pressesprecher des israelischen Militärs durch die Tunnel der Hamas führt und dort Videobeweise erbringt, die den Plan der Hamas offenlegen sollen. Laut Militärexperten ist das als Reaktion auf den Informationsangriff zu verstehen.

Dies ist jedoch lediglich als Gegenoffensive zu werten. Der Informationskrieg, wie er heute geführt wird, sagt Annen, sei eine sehr fortschrittliche Form der Manipulation. Unter Militärs wird in diesem Zusammenhang mittlerweile von "Kognitiver Kriegsführung" gesprochen. Unter diesem Begriff wird das Bewusstsein jedes einzelnen Menschen zum Schlachtfeld erklärt.

Das Thema Deep-Fake-Angriffe wird in der Zukunft immer wichtiger

Um gegen Deep-Fake-Angriffe und groß angelegte Manipulationskampagnen vorbereitet zu sein, hat seit 2020 auch die NATO ein spezielles Programm, dass sich mit der kognitiven Kriegsführung beschäftigt. Um sich eine Expertise auf dieser neuen Art der Kriegsführung aufzubauen, soll gezielt Methoden für die Manipulation von Kognitionsmechanismen (Fühlen, Wahrnehmen, Denken) entwickelt werden.

Unter Militärs besteht der allgemeine Konsens, dass das Thema in der Zukunft immer wichtiger wird. Das Thema hat so sehr an Bedeutung gewonnen, dass mittlerweile sogar bei der NATO diskutiert wird, ob man die "kognitive Sphäre", neben dem Boden, der Luft, dem Wasser, dem Cyberraum und dem Weltall als eine neue Dimension der militärischen Kriegsschauplätze definieren soll.

Über die Gesprächspartner

  • Prof. Dr. Hubert Annen ist Militärpsychologe und Oberst der Schweizer Armee und Titularprofessor der Universität Zürich. Er leitet seit 1999 die Dozentur für Militärpsychologie und Militärpädagogik an der Militärakademie an der ETH Zürich.
  • Steven Höfner ist seit Januar 2020 Leiter des Konrad-Adenauer-Stiftungs-Büros für die Palästinensischen Gebiete in Ramallah. Als Beobachter der Situation im Gaza-Streifen und im Westjordanland dient er unter anderem als politischer Berater.

Verwendete Quellen

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