Außenministerin Annalena Baerbock will Russlands Überfall auf die Ukraine strafrechtlich verfolgen. Nur: Dafür bräuchte es ein neues Gericht. Der Völkerrechtler Gerd Hankel warnt im Gespräch mit unserer Redaktion vor diesem Schritt.

Eine Analyse
Dieser Text enthält eine Einordnung aktueller Ereignisse, in die neben Daten und Fakten auch die Einschätzungen von Fabian Hartmann sowie ggf. von Expertinnen oder Experten einfließen. Informieren Sie sich über die verschiedenen journalistischen Textarten.

Es waren deutliche Worte, ein Vorstoß, der Tatkraft vermitteln sollte – und der auf breite Zustimmung in Deutschland stieß. Montagnachmittag, New Yorker Ortszeit. Bundesaußenministerin Annalena Baerbock ergreift vor dem Sicherheitsrat der Vereinten Nationen das Wort. Die Grünen-Politikerin berichtet von russischen Verbrechen in der Ukraine. Es geht um verschleppte Kinder. Um die Gräuel des Krieges.

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Baerbock will Russland – genauer gesagt, Präsident Wladimir Putin und sein Regime – dafür zur Rechenschaft ziehen. Der Kriegsherr im Kreml soll für den Angriff auf die Ukraine bestraft werden.

So will Baerbock Putin zur Rechenschaft ziehen

Baerbock spricht von einem "Urverbrechen" und prangert "Unmenschlichkeit" an. Um Gerechtigkeit walten zu lassen, will die Grünen-Politikerin das Völkerrecht reformieren. Denn: Aktuell ist es gar nicht so einfach, Putin abzuurteilen. Baerbock unterstützt den Vorschlag, die russische Führung per Sondertribunal zur Rechenschaft zu ziehen. Es könnte auf ukrainischem Recht basieren und auch mit internationalen Richtern besetzt sein.

In Deutschland stieß die Idee parteiübergreifend auf Zustimmung. Nicht aber bei Gerd Hankel. Der Völkerrechtler vom Hamburger Institut für Sozialforschung sagt über den Baerbock-Vorstoß schlicht: "Das ist keine gute Idee."

Der Jurist argumentiert, dass Putin vor einem solchen Gericht – also auf zwischenstaatlicher Ebene – Immunität genieße. Wolle man dies verhindern, müsste man eine Stufe höher gehen und ein internationales Gericht einschalten. Nur: Der Internationale Strafgerichtshof ist qua Definition dafür nicht zuständig. Der Grund: "Das Verbrechen des Angriffskriegs ist im konkreten Fall nicht strafbar", sagt Hankel im Gespräch mit unserer Redaktion.

Experte: Internationale Unterstützung fehlt

Was strafbar ist: Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen. Ein Angriff selbst verstößt zwar gegen das Völkerrecht. Es gibt aber keine Möglichkeit, den Aggressor zu verurteilen. Dafür müsste die Rechtsordnung umgebaut werden. "Natürlich wäre es theoretisch denkbar, einen neuen Gerichtshof zu gründen, aber dafür bräuchte es die Unterstützung der UN-Generalversammlung", sagt Hankel. Und eine Mehrheit darin gebe es nicht.

"Ich verstehe nicht, dass Frau Baerbock das nicht sieht", sagt der Experte unserer Redaktion. Staaten wie China, Indien, aber auch viele Länder in Afrika und Lateinamerika blickten ganz anders auf den Konflikt, als die Europäer und Amerikaner es täten, so Hankel. Der Außenministerin attestiert der Völkerrechtler eine "geradezu naive Weltsicht".

"Ein Tribunal auf Biegen und Brechen zu wollen, beschädigt den Gedanken des Völkerstrafrechts", urteilt Hankel. Der Jurist ist überzeugt, dass der Vorstoß bei vielen Staaten – vor allem auf der Südhalbkugel – nicht gut ankommt. "Dann müsste man nämlich auch sagen: Was war 2003, als die USA in den Irak einmarschiert sind? Davon spricht aber keiner", sagt Hankel.

Völkerrechtler sieht Putin nicht vor Gericht

Das aktuelle Völkerrecht sei nicht perfekt, es sehe aber Bestrafung bei Kriegsverbrechen vor. "Das ist doch nicht nichts", sagt Hankel. Man kann den Baerbock-Vorstoß also auch so sehen: Als eine Forderung, die vor allem auf das Publikum in Deutschland zielt. Und die hier gut ankommt.

Die Wahrscheinlichkeit, dass Wladimir Putin jemals vor einem Gericht stehen wird, ist gering. Auch Völkerrechtler Hankel ist skeptisch. "Es ist natürlich möglich, dass es eine Rebellion in Russland gibt und man Putin loswerden will und ihn abschiebt", sagt er. Wahrscheinlicher aber ist ein anderes Szenario: Dass Putin straffrei davonkommt.

Zur Person: Gerd Hankel ist Jurist, Völkerrechtler und Sprachwissenschaftler. Er ist am Hamburger Institut für Sozialforschung tätig. Als Buchautor ("Putin vor Gericht? Möglichkeiten und Grenzen internationaler Strafjustiz") hat er sich bereits mit der Frage, wie Russlands Präsident bestraft werden könnte, auseinandergesetzt.
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