Natascha Kohnen ist SPD-Spitzenkandidatin für die Landtagswahl in Bayern im Herbst. Bei den Koalitionsgesprächen mit der Union im Bund hat sie das Thema Mieten für die Sozialdemokraten mitverhandelt. Im Exklusiv-Interview spricht sie darüber, ob die beschlossenen Maßnahmen reichen, um Wohnen bezahlbar zu halten, warum dieses Thema eine soziale Sprengkraft hat - und warum sie für einen neue Tonalität in der Politik eintritt.
Wir treffen
Gerade im Vergleich zum neuen Ministerpräsidenten Markus Söder (CSU) ist ihr Bekanntheitsgrad selbst in Bayern gering.
Kohnen ist eine Quereinsteigerin, aber kein politischer Neuling mehr. Seit neun Jahren ist sie Generalsekretärin der Bayern SPD, seit vergangenem Mai auch Landesvorsitzende.
Davor arbeitete die studierte Biologin als Redakteurin und Lektorin im Fachbereich Naturwissenschaften.
Das merkt man ihr an. Sie stellt im Vorgespräch viele Fragen, blickt einen dabei konzentriert an und hört aufmerksam selbst zu. Im Interview wirkt sie sachlich, angenehm unaufgeregt. Sie vermeidet Angriffe auf politische Gegner. Dafür spricht sie auch über Fehler der eigenen Partei - und was sich bei der SPD ändern müsse.
Frau Kohnen, seit Mittwoch steht die große Koalition. Was sind die drängendsten Themen, die die SPD-Minister jetzt anpacken müssen?
Natascha Kohnen: In erster Linie ist unsere Familienministerin Franziska Giffey gefordert. Da geht es dann um die Themen kostenlose Kitas und Anspruch auf Ganztagsbetreuung für Grundschüler.
Ebenso wichtig ist aus meiner Sicht aber das Thema Wohnen und Bauen. Da muss unsere Justizministerin
Und schließlich muss unser Arbeitsminister
Das sind wichtige sozialdemokratische Forderungen, die wir in den Koalitionsverhandlungen durchgesetzt haben. Die sind gut fürs Land und gut für das Leben von jedem Einzelnen.
Das Thema Wohnen und Mieten haben Sie für die SPD in Berlin mitverhandelt. Hand aufs Herz: Genügen die vereinbarten Maßnahmen, um Wohnen bezahlbar zu halten?
Das ist eine Gemeinschaftsaufgabe von allen Ebenen, von Bund, Ländern und Kommunen. In Bayern tun die Kommunen wahnsinnig viel, sie bauen mit ihren städtischen Wohnbaugesellschaften schon seit Jahren.
Auch der Bund hat unter Umweltministerin Barbara Hendricks (SPD) in der letzten Legislaturperiode viel investiert. Und das muss auch so weitergehen, das haben wir jetzt durchgesetzt.
Aber auch die Ebene dazwischen ist gefordert, das Land. Und da fehlt es zum Beispiel in Bayern. Dafür möchte ich hier beispielsweise ein eigenes Bauministerium schaffen. Aus meiner Sicht ist das Thema bezahlbares Wohnen die soziale Frage der kommenden Jahrzehnte.
Steigende Wohnungs- und Mietpreise sind aber doch kein neues Phänomen. Wir sind hier gerade in München – einer Stadt, in der schon vor 20 Jahren klar war, dass die Quadratmeterpreise immer weiter steigen werden, wenn nicht gegengesteuert wird. Aber stattdessen sinkt die Zahl der Sozialwohnungen seit Jahrzehnten.
Mitte der 90er Jahre wurde in Bayern noch massiv in den sozialen Wohnungsbau investiert. Danach hat die Staatsregierung damit aufgehört. Wir sind bei den Haushaltsmitteln für den sozialen Wohnungsbau auf dem niedrigsten Stand seit 20 Jahren.
Aber das Thema betrifft ja nicht nur München und Bayern, sondern die Mieten steigen eigentlich in allen Ballungsräumen, auch in Nordrhein-Westfalen oder Hessen, wo auf Landesebene in den letzten Jahrzehnten auch SPD-Regierungen an der Macht waren.
Aber da, wo es beispielsweise eigene Bauministerien oder wie in Hamburg Bausenatoren gibt, wird das Thema jetzt richtig angepackt. Es muss eben die Erkenntnis kommen, dass Bauen ein eigenes Aufgabenfeld für die Politik ist.
Aber noch einmal die Nachfrage: Können Sie versprechen, dass mit den jetzt auf Bundesebene beschlossenen Maßnahmen – Senkung der Modernisierungsumlage, Verschärfung der Mietpreisbremse, mehr Geld für den sozialen Wohnungsbau und Baukindergeld – Wohnen bezahlbar bleibt?
Was wir beschlossen haben, sind wichtige Schritte auf dem Weg dorthin. Und es ist doch klar: Wenn mehr Wohnraum geschaffen wird, dann entspannt sich der Wohnungsmarkt. Das heißt: Bauen, Bauen, Bauen.
Gleichzeitig müssen wir auch die bestehenden Mieten einbremsen. Das ist bitter notwendig, weil das Thema bezahlbarer Wohnraum eine ungeheure soziale Sprengkraft birgt.
Auch wegen der steigenden Zahl an Zuwanderern?
Nein, das ist nicht der Punkt. Das Thema Wohnen und Mieten war schon davor Gesprächsthema überall in Bayern – im Übrigen auch ganz unabhängig vom Einkommen. Die Menschen fürchten sich und fragen: Kann ich mir mein Dach über dem Kopf noch leisten, wenn hier modernisiert wird?
Ich habe vor etwa 20 Jahren in Paris gelebt. Dort kann man gut sehen, was passiert, wenn die Politik nicht eingreift. Da wohnen tatsächlich nur noch die oberen zehn Prozent in der Stadt und der Rest wird rausgedrängt. So verliert man aber auch seine Heimat und seinen Platz in der Gesellschaft.
Im Wahlkampf und dann auch in den Koalitionsverhandlungen hat die SPD vehement die Abschaffung von befristeten Arbeitsverhältnissen gefordert. Sie haben am vergangenen Wochenende auf dem Landesparteitag der SPD angeprangert, dass auch der öffentliche Dienst befristete Arbeitsverträge vergibt. Das ist aber weder ein neues noch ein rein bayerisches Phänomen.
Ist es nicht, da haben sie recht, das gilt für alle Länder. Und alle Länder sind aufgerufen, das einzuschränken. Wir müssen den Jüngeren, die vor allem von Jobbefristungen betroffen sind, eine Perspektive geben.
In meiner Rolle als bayerische Oppositionsführerin schaue ich aber genauer auf die bayerische Staatsregierung. Und was hier überhaupt nicht geht, ist, dass Lehrer Jahresverträge von September bis Juli bekommen und im August dann auf einen neuen Vertrag warten müssen. Das ist doch völlig absurd, weil wir unbedingt in Bildung investieren müssen.
Im Herbst sind Landtagswahlen in Bayern. Sie setzen - ähnlich wie die SPD im Bund - einen Schwerpunkt auf Gerechtigkeitsthemen. Auf Bundesebene hat das aber nicht funktioniert. Warum?
Es war einfach nicht klar, was konkret damit gemeint war. Da wäre eine Fokussierung und auch Zuspitzung auf ein paar wenige Themen gut gewesen.
Und das tut die SPD in Bayern jetzt?
Zunächst einmal geht es darum, den Menschen zuzuhören – den Bürgern und den Politikern vor Ort, in den Kommunen. Da hören wir hier in Bayern ganz klar, was die Probleme sind.
Und zwar?
Da kommt als Allererstes das Thema Wohnen. Dann die Frage: "Hast du Zeit für deine Familie und kriegst du das mit deinem Job unter einen Hut – auch als Alleinerziehende?" Also um die Themen Kinderbetreuung und Kitas.
Als Drittes geht es um die Sorge, "was passiert in der Arbeitswelt, habe ich meinen Job in zehn Jahren eigentlich noch oder ersetzt mich die Maschine irgendwann?"
Das müssen wir ernst nehmen. Und das ist auch die Erwartung an die SPD, da Lösungen anzubieten.
Welche sind das in Bayern?
Wir brauchen hier in Bayern eine landeseigene Wohnbaugesellschaft. Und die muss in den nächsten fünf Jahren 25.000 Wohnungen bauen. Und die Sozialbindungen, die für bestehende Wohnungen gelten, müssen verlängert werden. Die gelten normalerweise 20 Jahre, aber jedes Jahr fallen hier Wohnungen raus und so beginnt die Preisspirale nach oben.
Beim Thema Arbeitswelt geht es um Bildung, Bildung, Bildung. Wenn du mehr weißt als die Maschine, dann sagst du der Maschine, was läuft. Bayern ist im Übrigen neben Sachsen das einzige Land, wo es kein Weiterbildungsgesetz gibt, also kein Recht auf Weiterbildung auch im Beruf.
Und beim Thema Vereinbarkeit von Beruf und Familie ist es unbestritten, dass wir mehr Geld für zusätzliche Kinderbetreuungsplätze und mehr Erzieherinnen brauchen. Wir dürfen die berufstätigen Eltern, die auf gute Kinderbetreuung angewiesen sind, nicht länger alleine lassen. Und Kitas müssen gebührenfrei werden, damit Kinder auch die gleichen Startchancen haben.
Die SPD steht in Umfragen im Bund bei nicht einmal 20 Prozent, in Bayern nur bei 15 Prozent. Auch die CDU und die CSU müssen massive Verluste hinnehmen. Haben Sie eine Erklärung, warum die Volksparteien aktuell so zurechtgestutzt werden?
Die Unterschiede zwischen den Volksparteien sind in den letzten Jahren nicht deutlich genug geworden. Die Menschen haben die sehr unterschiedlichen Auffassungen von SPD und CDU/CSU nicht mehr wahrgenommen.
Man hat jetzt aber gerade in den Koalitionsverhandlungen gesehen, wie unterschiedlich wir an Politik herangehen. Deshalb war das Ringen um die Kompromisse so hart.
Die neue große Koalition muss anders werden als die letzte. Es muss deutlich werden, wofür die SPD steht, was sie durchsetzt – und auch, was wir anders machen würden, wenn wir alleine regieren könnten.
Auf dem Parteitag sind Sie ziemlich zurückhaltend aufgetreten, haben sich nach der Wahl weder abfeiern lassen noch den politischen Gegner in Ihrer Rede namentlich angegriffen. Warum?
Ich halte nichts davon, dass sich Politiker ständig gegenseitig eine drüberziehen, sondern ich wünsche mir einen politischen Stil der Sachlichkeit, der Ernsthaftigkeit, wo wir über Themen reden - auch in einer Sprache, die jeder versteht. Und das respektvoll.
So wie ich mit meinen Freunden, mit meiner Familie rede, so erwarte ich das auch in der Politik. Das hat auch etwas mit einer Vorbildfunktion zu tun.
Mit Angela Merkel haben wir eine Kanzlerin, mit Andrea Nahles, Sahra Wagenknecht, Katrin Göring-Eckardt und Annalena Baerbock stehen Frauen alleine oder gemeinsam an der Fraktions- oder Parteispitze. Das gilt auch für die AfD mit Alice Weidel. Inwiefern verändert das die Politik?
Na ja, wir haben im Bundestag noch nie so wenige Frauen gehabt wie im Moment. Das liegt im Übrigen an der von Ihnen gerade genannten extremen Partei und an der CSU. Es sind schon verdammt wenige Frauen im Parlament, das sollte anders sein. Wir machen immerhin die Hälfte der Gesellschaft aus, sogar ein bisschen mehr.
Ich kann mir aber vorstellen, je mehr Frauen an die Spitze gehen – das sind ja auch Vorbilder -, desto mehr Frauen ziehen nach. Aber man muss das auch fördern. Das merke ich auch hier in Bayern. Ich habe zwei Stellvertreterinnen, zwei tolle junge Frauen, und da hoffe ich, dass die jetzt auch kraftvoll mitgehen.
Machen Frauen eine andere Politik oder ist das zu klischeehaft gedacht?
Also ich würde ungern das Klischeedenken füttern wollen und behaupten, dass Frauen Politik so und Männer so machen. Ich glaube, die Mischung macht’s.
Deswegen finde ich es echt schade, wie der Bundestag aktuell zusammengesetzt ist. Da muss der Frauenanteil wieder hochgehen - und zwar deutlich. Das Schönste wäre natürlich 50:50.
Haben Sie eigentlich Mitleid mit Martin Schulz, der in gut einem Jahr vom 100-Prozent-Kanzlerkandidaten zum einfachen Bundestagsabgeordneten wurde?
Ich habe Respekt vor Martin Schulz für das, was er geleistet hat. Und das, was er im letzten Jahr durchgemacht hat, wünscht man keinem. Und deswegen muss man menschlich nicht nur Respekt, sondern auch Mitgefühl haben.
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