Wer steht noch bedingungslos hinter der Schuldenbremse? Selbst die Wirtschaftsweisen rücken von ihr ab. Im Interview sagt die Vorsitzende Monika Schnitzer, warum die deutsche Finanzpolitik in eine Sackgasse führt und wie sie auf Bürgergeld, Rente und die aktuelle Debatte um Entlastung der Unternehmen blickt.
Es ist die Gretchenfrage der Wirtschaftspolitik: mehr Markt oder mehr Staat. Je nach Blickwinkel fällt die Antwort unterschiedlich aus. Fakt ist: Die deutsche Wirtschaft ist auf Rezessionskurs. Die lahmende Konjunktur könnte also einen Impuls gebrauchen.
Nur: Was hilft gegen die Krise? Welche Rolle spielt die Schuldenbremse dabei? Und wie lange zeigt sich der Arbeitsmarkt noch robust? Fragen an eine, die es wissen muss: die Chefin der Wirtschaftsweisen Monika Schnitzer.
Frau Schnitzer, das Jahr hat gerade erst begonnen, doch die Konjunkturexperten sind sich bereits einig: Auch 2024 fällt der Aufschwung aus. Wie schlecht geht es dem Land?
Monika Schnitzer: Im November hatten wir ein Wachstum von 0,7 Prozent für dieses Jahr prognostiziert – das war allerdings noch vor dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts. Die Haushaltslage ist danach schwieriger geworden. Die Kürzungen wirken sich auf die Konjunktur aus. Wir werden dazu im Frühjahr noch eine eigene Schätzung vorlegen. Aber es ist gut möglich, dass ein halbes bis ein Prozentpunkt Wachstum dadurch verloren geht. Im schlimmsten Fall wächst die Wirtschaft in diesem Jahr wieder nicht.
Die Financial Times bezeichnet Deutschlands Wirtschaftslage als "Unfall in Zeitlupe".
Es ist auf jeden Fall offensichtlich, dass wir uns schwer damit tun, die großen Herausforderungen anzugehen. Wir sind an vielen Stellen zu rückwärtsgewandt. Lassen Sie es mich so sagen: Wir sind nicht der kranke Mann Europas, wir sind aber der alternde Mann Europas. Durch die Demografie stehen immer weniger Arbeitskräfte zur Verfügung. Jetzt gehen die Babyboomer in Rente, was die Situation zusätzlich verschärft. Weniger Arbeitskräfte begrenzen immer auch das Wachstum.
Wo hapert es noch?
Wir sind ein alterndes Land – und das trifft auch auf den Kapitalstock zu, also etwa die Infrastruktur. Die Modernisierung muss dringend angegangen werden, auch mit Blick auf die grüne Transformation. Mein Eindruck ist: Wir halten zu lange an alten Sachen fest. Es fehlt an jungen, innovativen Unternehmen. Die Wirtschaftspolitik denkt viel darüber nach, wie wir die Industrie in ihrer bestehenden Form erhalten. Und viel zu wenig darüber, wie wir den Push nach vorne hinbekommen.
Wirtschaftsminister Habeck und Finanzminister
Es passt für mich nicht zusammen, einerseits die Steuern zu senken, um die Konjunktur anzukurbeln, während die Europäische Zentralbank (EZB) andererseits die Zinsen hochhält, um die Inflation einzudämmen. Ich sehe auch nicht, woher die Gegenfinanzierung kommen soll. Dazu fehlt mir angesichts der sich abzeichnenden schwierigen Haushaltslage 2025 die Phantasie.
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Monika Schnitzer: "KI könnte ein Game Changer sein"
Die Gewerkschaften haben das Thema Arbeitszeitverkürzung wieder für sich entdeckt. Angesichts der Wachstumsschwäche: Eine Diskussion, die fehl am Platz ist?
Das würde ich so nicht sagen, es ist ein Ausdruck des Marktgeschehens. Sonst drängen Unternehmen darauf, dass man Marktkräfte spielen lässt. Jetzt profitieren davon eben die jungen Leute. Das wird im Zweifel dazu führen, dass die Löhne steigen. Es wäre auch denkbar, dass Beschäftigte nochmal einen Aufschlag bekommen, wenn sie ihre Arbeitszeit nicht reduzieren.
Welche Rolle spielt Künstliche Intelligenz (KI) in der Arbeitswelt von morgen?
KI könnte in der Tat ein großer Game Changer sein. Denn am Ende ist es ja so: Wir müssen mehr automatisieren. Schlicht, weil die Arbeitskräfte fehlen und ersetzt werden müssen. KI bietet das Potential, den Rückgang des Produktivitätswachstums aufzuhalten. Die Frage ist: Schaffen wir das? Bei der Digitalisierung schaffen wir es bislang nicht. Der Staat nicht und die Unternehmen – zumindest in der Breite – auch nicht. Da muss sich etwas tun.
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Bislang konnten Krisen dem Arbeitsmarkt nichts anhaben. Jetzt steigt die Arbeitslosigkeit wieder.
Wie stark die Arbeitslosigkeit steigen wird, ist noch nicht klar. Das große Thema ist der Fachkräftemangel. Wenn wir Arbeitslosigkeit haben, dann weil wir es nicht schaffen, die Menschen in die Jobs zu bringen, in denen sie gebraucht werden. Beispiel Autoindustrie: Wenn der Verbrenner nicht mehr gebaut wird, fallen Arbeitsplätze weg. Die werden aber an anderer Stelle wieder benötigt, etwa in der Batteriefertigung. Also: Der Fokus in der Arbeitsmarktpolitik sollte auf Weiterbildung, Qualifizierung, Umschulung liegen.
Zuletzt ist das Bürgergeld deutlich gestiegen. Kritiker finden, es ist zu hoch – und macht damit die Aufnahme einer Arbeit unattraktiver.
Das Bürgergeld dient der Sicherung des Existenzminimums. So ist es verfassungsrechtlich festgelegt, da gibt es auch kein Vertun. Früher war es so: Die Bedarfssätze wurden rückblickend angepasst. Ist die Inflation aber hoch und die Sätze steigen verzögert, rutschen Bezieher in der Zwischenzeit unters Existenzminimum. Das hat auch das Verfassungsgericht angemahnt. Also wurde die Berechnungsgrundlage geändert: Die Sätze werden jetzt im Voraus an die erwartete Inflation angepasst. Nun könnte man sagen: Die Inflationserwartung wurde zuletzt etwas überschätzt. Andererseits: Dass die Inflation schneller wieder sinkt als zunächst angenommen, ist eine gute Nachricht. Aber ich gehe davon aus, dass das Bürgergeld in Zukunft wieder langsamer steigt, wenn die Inflation weiter zurückgeht.
Letzte Woche hat das Parlament den Bundeshaushalt 2024 beraten. Finanzminister Christian Lindner hat bei X geschrieben, es sei kein Sparhaushalt, sondern ein "Gestaltungshaushalt". Hat er recht?
Also viel Gestaltung sehe ich nicht. Es ist nach wie vor offensichtlich, dass wir mehr Investitionen in Infrastruktur brauchen. Dass wir die grüne Transformation vorantreiben müssen. An manchen Stellen im Haushalt wurde gespart, bei der Digitalisierung, Stichwort Cyber Security. Und da denkt man sich: Naja, das war jetzt vielleicht doch die falsche Stelle. Man muss aber auch sagen: Die Schuldenbremse in ihrer jetzigen Form ist ein Korsett, das nicht viel Gestaltungsspielraum lässt.
Der Sachverständigenrat hat sich für eine Reform ausgesprochen. Woran krankt die Schuldenbremse?
Zunächst die Ausgangslage: Wenn wir an der aktuellen Regelung festhalten, dann würde die Schuldenquote über die nächsten 40 bis 50 Jahre von aktuell über 60 Prozent auf rund 30 Prozent runterfahren, selbst wenn wir alle fünf Jahre eine Krise haben – das ist viel zu viel. Und auch überhaupt nicht notwendig, um die Tragfähigkeit der Staatsfinanzen zu gewährleisten. Mit dem, was wir vorschlagen, bliebe die Schuldenquote in etwa konstant bei 60 Prozent. Das ist im internationalen Vergleich niedrig und absolut vertretbar.
Was schwebt Ihnen konkret vor?
Vor allem zwei Dinge sind wichtig: Was fehlt, ist eine Übergangsregel nach einer Notlage. Es ist nicht plausibel, warum im darauffolgenden Jahr sofort wieder die Schuldenbremse greifen soll – zumal die Wirtschaft dann meist noch schwächelt und keinen negativen Impuls gebrauchen kann. Oder schauen wir auf die Flutkatastrophe im Ahrtal. Die Schäden sind nicht innerhalb eines Jahres beseitigt. Das dauert und die Menschen müssen sich darauf verlassen können, dass Hilfsgelder für den Wiederaufbau bei ihnen ankommen. Unsicherheit ist immer schlecht. Eine regelgebundene Übergangsphase hieße, dass der Staat sich temporär höher verschulden darf – und dass dieses Defizit dann aber sukzessive reduziert werden muss.
Und Punkt zwei?
Wir brauchen mehr Flexibilität bei der Schuldenbremse. Aktuell darf das strukturelle Defizit im Haushalt bei 0,35 Prozent des BIP liegen. Das ist starr. Wir schlagen vor, die Neuverschuldungsgrenze an der Schuldenquote zu orientieren. Ist die Gesamtverschuldung niedrig und liegt unterhalb von 60 Prozent, dürfte das strukturelle Defizit im Haushalt bei einem Prozent liegen. Bei Quoten zwischen 60 und 90 Prozent wären 0,5 Prozent erlaubt. Bezogen auf den aktuellen Haushalt heißt das: Die Nettokreditaufnahme könnte um knapp sechs Milliarden Euro höher liegen.
Ökonomin Schnitzer über Generationenkapital: "Tropfen auf den heißen Stein"
An anderer Stelle wird investiert. Zwölf Milliarden Euro sind 2024 vorgesehen für den Aktien-Einstieg bei der Rente, das sogenannte Generationenkapital. Damit will die Politik die Umlage stützen. Löst das die Renten-Probleme?
Das ist ein Tropfen auf den heißen Stein. Und auch die Konstruktion überzeugt nicht. Der Staat verschuldet sich zu niedrigen Zinsen und legt das Geld am Kapitalmarkt an – die Differenz daraus ist der Gewinn und damit sollen die Beitragssätze in Zukunft stabilisiert werden. Niemand weiß, ob künftige Regierungen nicht doch auf das Geld zurückgreifen. Besser wäre ein anderes Modell.
Nämlich?
Vorsorge am Aktienmarkt ist gut – aber sie sollte individuell sein. Der Staat kann es organisieren und bezuschussen, aber jeder Bürger hätte seinen eigenen Spartopf. So haben es die Schweden vor über 20 Jahren schon gemacht. Also Kapitaldeckung, um die individuelle Rente zu erhöhen. Und nicht, um Beitragssätze in Zukunft zu stabilisieren.
Die Wirtschaftsweisen wollen auch, dass die Deutschen länger arbeiten. Ist die Rente mit 70 kein Tabu mehr?
Fakt ist: Die Lebenserwartung steigt, was gut ist. Ein Teil dieser zusätzlichen Zeit sollte auch in Arbeit investiert werden. Die Rente mit 67 greift erst im Jahr 2031 voll. Uns schwebt vor, die Lebensarbeitszeit entlang der Lebenserwartung zu erhöhen. Das wäre aktuell alle zehn Jahre ein halbes Jahr längere Arbeitszeit. Bei der Rente mit 70 wären wir demnach erst im Jahr 2091.
Über die Gesprächspartnerin
- Monika Schnitzer, 62, ist Professorin für Volkswirtschaftslehre an der Ludwig-Maximilians-Universität in München (LMU). Dort ist sie Inhaberin des Lehrstuhls für Komparative Wirtschaftsforschung. Die Ökonomin ist seit über 20 Jahren in der Politikberatung aktiv. Seit Oktober 2022 steht sie dem "Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung" vor. Das fünfköpfige Gremium – umgangssprachlich auch "Wirtschaftsweise" genannt – berät die Bundesregierung in wirtschaftspolitischen Fragestellungen.
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