Der Terror von Mannheim und Solingen erschüttert die Republik. CDU-Chef Friedrich Merz fordert eine Umkehr in der Migrationspolitik und wähnt sogar einen "Notstand". Doch der Kanzler zaudert in dieser Frage seit Monaten. Dafür droht ihm und allen drei Regierungsparteien bei den Wahlen im Osten eine Quittung, wie sie Deutschland noch nie erlebt hat.

Dr. Wolfram Weimer
Eine Kolumne
Diese Kolumne stellt die Sicht von Wolfram Weimer dar. Informieren Sie sich, wie unsere Redaktion mit Meinungen in Texten umgeht.

Es braut sich etwas zusammen. Am kommenden Sonntag wird in Ostdeutschland gewählt, und die Demoskopen sagen den brisantesten Wahlausgang in der Geschichte der Bundesrepublik voraus. In Sachsen und Thüringen könnte die rechtspopulistische AfD nicht nur stärkste Partei werden, zusammen mit der linkspopulistischen BSW drohen die extremen Ränder absolute Mehrheiten in den Parlamenten zu erringen.

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Für die drei Regierungsparteien SPD, Grüne und FDP bahnt sich ein historisches Desaster an – sie könnten sogar ganz aus den dortigen Parlamenten verschwinden. Die Wut von Millionen Wählern auf die Bundesregierung ist offenbar noch nie so groß und systemsprengend gewesen wie jetzt.

Die Wahlen werden weithin – auch im europäischen Ausland – als eine Volksabstimmung über die Berliner Politik interpretiert. Der Urnengang findet eine Woche nach dem islamistischen Terroranschlag von Solingen und ein Jahr vor der Bundestagswahl statt. Gewählt wird nicht in irgendwelchen Randgebieten, sondern in den erfolgreichen Kraftzentren des Ostens mit seinen Metropolen wie Leipzig, Erfurt, Dresden, Jena und Chemnitz. In Sachsen, Thüringen und Brandenburg leben ähnlich viele Menschen (8,6 Millionen) wie in ganz Österreich oder der Schweiz. Wenn am kommenden Sonntag alle drei Ampelparteien tatsächlich Richtung der Fünf-Prozent-Marke abstürzen sollten, dann wäre Deutschland plötzlich eine andere Republik.

Diese drei Themen lösen Unzufriedenheit aus

Die Volksstimmung gegen Olaf Scholz und seine Ampel ist nicht bloß enttäuscht oder kritisch, sie ist regelrecht umstürzlerisch. Sachlich nährt sich die Wut unter Ostdeutschen aus drei Themen: Erstens wird Scholz ein Dauer-Versagen in der Migrationsfrage vorgeworfen. Deutschland bekomme die illegale Massenzuwanderung von muslimischen Männern nicht in den Griff, die innere Sicherheit wird als bedroht empfunden, die Attentate von Mannheim und Solingen waren große Symbolereignisse für diese Massenstimmung.

Zweitens wird die Energie- und Wirtschaftspolitik der Ampel als stümperhaft wahrgenommen. Die Vokabeln "Verbrennerverbot", "Gas-Umlage", "Atom-Ausstieg" oder "Heizungsgesetz" reichen bei Wahlveranstaltungen bereits, um höhnisches Johlen des Publikums zu provozieren. Und drittens wird Berlin ein Lavieren in der Ukrainekrise vorgehalten. Die Mehrheit der Ostdeutschen will schlichtweg sofortige Friedensverhandlungen mit Russland.

Doch das tiefe Misstrauen gegen den Kanzler rührt psychologisch tiefer. Olaf Scholz wird in weiten Teilen der Bevölkerung als selbstgefällig, bräsig und passiv wahrgenommen. Laut ARD-Deutschlandtrend sagen 76 Prozent der Deutschen, ihm fehle "Führungsstärke". Er wird weithin als ein Kanzler des Niedergangs eingeschätzt. Im Osten ist das Sensorium der Menschen für einen industriellen Absturz und politische Schönfärberei aufgrund der DDR-Erfahrung feiner als anderswo.

Wenn Deutschlands Wirtschaft im internationalen Vergleich fühlbar zurückfällt, die Regierung zugleich eine Unterdosis von Sachkompetenz, aber einen Überschuss an moralischer Besserwisserei verbreitet, dann keimt eine Stimmung des Widerstands. Die Gender-, Wokeness- und Klimadebatten aus Berlin lösen jedenfalls von Suhl bis Görlitz inzwischen regelrechte Wut gegen Bevormundung aus. Eine Allensbach-Studie misst 63 Prozent der Befragten in den ostdeutschen Bundesländern, die der Meinung sind, die Politik wolle ihnen immer mehr vorschreiben, wie sie ihr Leben zu führen haben.

Ostdeutsche Kritik: Politiker gelten als abgehoben

Die Unzufriedenheit mit Kanzler und Ampel geht über Ostdeutschland weit hinaus. Deutliche 79 Prozent aller Deutschen sind laut ARD-Deutschlandtrend mit der Arbeit der Bundesregierung unzufrieden. 75 Prozent der Ostdeutschen empfinden die Politiker in Berlin als "abgehoben". Eine ungewollte Bestätigung dieses Verdachts lieferte die SPD-Vorsitzende Saskia Esken, als sie im Fernsehen selbstgefällig erklärte, dass man aus dem Anschlag von Solingen "nicht allzu viel lernen kann".

Vor allem bei der Migrationsfrage erwarten große Mehrheiten dringend Lernfortschritte der Regierung und eine deutliche Begrenzung und Steuerung der unkontrollierten Massenzuwanderung. Wenn das nicht einmal nach solchen Attentaten wie in Solingen und Mannheim passiert, verlieren immer mehr Menschen das Vertrauen in die Demokratie an sich. Nach der Allensbach-Umfrage glauben nur noch 27 Prozent der Ostdeutschen, dass die Demokratie in der Lage ist, die aktuellen Herausforderungen zu bewältigen.

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Immerhin spricht der Bundeskanzler in Anbetracht der angespannten Lage jetzt mit dem CDU-Vorsitzenden Friedrich Merz über dessen Vorschlag zu einer gemeinsamen Umkehr in der Migrationsfrage. Für die Wahlen im Osten dürften freilich alle Erwägungen zu spät kommen. Innerhalb der Ampel wird ab Sonntagabend 18:00 Uhr voraussichtlich der Streit der Koalitionäre neu und lautstark ausbrechen. Der Druck aus der Gesellschaft nach politischen Korrekturen in Berlin dürfte noch einmal massiv steigen. Die FDP könnte den finalen Anlass für den Ausstieg aus der Ampel finden, die SPD wird Schockwellen des Selbstzweifels erleiden.

Für Olaf Scholz beginnt damit ein politischer Überlebenskampf, weil viele Sozialdemokraten längst lieber mit Boris Pistorius in den kommenden Bundestagswahlkampf ziehen wollen. Und auch die Union wird sich ab Sonntag rasch entscheiden müssen, wer nun Kanzlerkandidat wird. Die Union ist die einzig verbliebene Volkspartei der demokratischen Mitte, sie wird sich keine wochenlangen Personaldebatten bis zur Brandenburgwahl leisten können. Wenigstens die CDU muss signalisieren: Wir sind für einen Neuanfang bereit und personell aufgestellt.

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