In der Ostukraine wird auch über vier Jahre nach Ausbruch der Kampfhandlungen weiter geschossen. Für die Weltöffentlichkeit spielt der Konflikt kaum noch eine Rolle, für die Menschen in der Region aber ist die Situation dramatisch.
Über dem Kopf von Olena Zgurska klafft ein rund ein mal ein Meter breites Loch in der Decke. Die 56-Jährige, dunkler Mantel, kurze schwarze Haare, steht im Flur einer weiterführenden Schule in Krymske und schaut besorgt nach oben.
Das Dorf liegt rund 40 Kilometer von der Großstadt Luhansk entfernt in der Ostukraine am Siwerskyj Donez, einem Nebenfluss des Don. "Der Sommer war sehr schrecklich für die Kinder, weil es jeden Tag Gefechte gab", sagt die Direktorin. "Wir sind müde vom Krieg."
Seit 2014 tobt der blutige Konflikt zwischen ukrainischen Streitkräften und prorussischen Rebellen, die einen Teil der Ostukraine besetzt und die Volksrepubliken Luhansk und Donezk ausgerufen haben.
Russland bestreitet offiziell seine Beteiligung, obwohl Medienberichte nahe legen, dass Moskau mit Soldaten und Material die Separatisten unterstützt.
Rund 11.000 Menschen starben in den Kämpfen, darunter etwa 3.000 Zivilisten. Etwa 1,7 Millionen Menschen haben ihre Heimat verlassen. Aus der Weltöffentlichkeit ist der Konflikt weitgehend verschwunden. Für Olena Zgurska und ihre Schüler ist er weiter Teil des Alltags.
Der Krieg ist zum Alltag geworden
Ein Teil der Schule in Krymske ist seit Jahren nicht mehr benutzbar, seitdem Granaten das Dach durchschlugen.
Die Gefechte haben auch Spuren bei den Schülern hinterlassen: Einige leiden unter psychischen Problemen und Schlafstörungen – doch Unterstützung ist immer schwerer zu bekommen. "Am Anfang des Krieges hatten wir noch Hilfe von Psychologen, aber mittlerweile kaum noch", sagt die Direktorin.
In der idyllisch gelegenen Ortschaft, die vor dem Krieg von rund 1.500 Menschen bewohnt wurde, schlagen immer wieder Granaten der Separatisten ein. Die "Kontaktlinie", wie die Grenze zwischen den verfeindeten Truppen genannt wird, verläuft direkt am Rande des Ortes.
2014 stand Krymske zeitweise unter Kontrolle der prorussischen Rebellen. Dann wurde es zurückerobert. "Das ist ein Krieg der Reichen, der Oligarchen", klagt der 16 Jahre alte Schüler Mykola, ein hübscher Junge mit dunkelblonden Haaren.
Viele Kinder seien mittlerweile gleichgültig gegenüber dem Krieg, sie hätten sich an die Gefahr gewöhnt, sagt Direktorin Zgurska.
Der Alltag für die Menschen in Krymske und vielen anderen Orten ist beschwerlich. Ärzte haben ihre Praxen verlassen, Busse fahren seltener oder gar nicht mehr, Lebensmittelläden mussten schließen. Hinzu kommt die Gefahr durch Gewehr-, Panzer- oder Granatenbeschuss.
Die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) stellte erst vor wenigen Wochen eine "Aufwärtsspirale der Gewalt" fest. Wer konnte, hat die Heimat verlassen. Vor allem die Alten bleiben in den frontnahen Gebieten zurück.
Selbst Sportvereine wie Schachtar Donezk sind betroffen. Der mehrfache ukrainische Meister und UEFA-Pokalsieger von 2009 trägt seine Heimspiele mittlerweile in Charkiw aus.
Ein Fadenkreuz über Putins Kopf
Doch es gibt auch Gruppen, die versuchen das Geschehen für ihre Zwecke zu nutzen. Eine davon ist die "Good News Church", eine evangelikale Kirche aus den USA.
In einem Flüchtlingsheim in der Nähe von Slaviansk, etwa 20 Kilometer westlich von Krymske, sitzt Militärseelsorger Pater Gennadi bei Kaffee in seinem Büro.
An der Tür hinter dem Bärtigen hängt ein Poster des russischen Präsidenten
Der Geistliche leistet ukrainischen Soldaten Beistand, segnet sie und ihr Kriegsgerät. Neben den spirituellen Aktivitäten leisten die Gemeindemitglieder auch humanitäre Hilfe.
In der Ostukraine versuchen protestantische Kirchen wie die Good News Church und andere US-Freikirchen die mehrheitlich orthodoxen Gläubigen zu missionieren. Teils sind sie schon seit dem Ende des Kommunismus im Land, teils erst seit wenigen Jahren.
In einer Kirche in Slaviansk werden Gemeindemitglieder zum Bekehren ausgebildet. Die Evangelikalen sehen in dem Konflikt eine Möglichkeit, an Einfluss zu gewinnen.
"Zur Religion zu finden, war im Krieg schon immer leichter. Wenn die Angst kommt, sind die Menschen offen für Gott", sagte Ljubow Schpichernjuk, ein Missionar, der "New York Times". Zweifler sollen auch mit weltlichen Gaben wie Brot oder Feuerholz von einem Übertritt überzeugt werden.
Unter den orthodoxen Geistlichen werden diese Geschenke kritisch gesehen. Die US-Kirchen sind in ihren Augen Teil eines "spirituellen Krieges".
"Die Welt hat uns vergessen"
Am Rande der rund 500 Kilometer langen Kontaktlinie, die das Industrierevier Donbass zerschneidet, gibt es immer wieder Zeugnisse vergangener Kämpfe. Verrostete Skelette von Panzern und Militärfahrzeugen stehen am Rand einer Straße in der Nähe von Donezk. Gräber von Gefallenen sind mit Blumen, Patronenhülsen und Zigaretten geschmückt. Auch die Toten sollen rauchen können. Einige der Männer waren gerade 20 Jahre alt.
Tausende Zivilisten passieren täglich die Übergänge zwischen den sogenannten Volksrepubliken und der Ukraine. Etwa um Verwandte zu besuchen oder die Rente einzulösen.
Ein Austausch findet weiter statt. "Die Russen sind unsere Brüder", sagt ein ukrainischer Soldat, der nicht genannt werden will. "Aber nicht als Sklaven unter Sklaven."
Der Kampf gegen die Terrormiliz "IS", die gestiegene Terrorgefahr, die Flüchtlingskrise in Europa und auf Seiten Russlands das Eingreifen in den syrischen Bürgerkrieg haben den Fokus der internationalen Politik von der Ostukraine fortbewegt.
Ein vergessener Krieg mitten in Europa. Für die Menschen vor Ort eine tragische Entwicklung. "Die Welt", klagt Schuldirektorin Olena Zgurska, "hat uns vergessen".
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