Ralf Ketzel ist Deutschland-Chef des Panzerbauers KNDS. Im Interview spricht er über die neue Bedeutung der Rüstungsindustrie, strategische Fehler im Ukraine-Krieg und erklärt, warum sein Unternehmen nicht in der Lage ist, Kiew schnell neues Gerät zu liefern.
Im Münchner Stadtteil Allach braucht es keine "Zeitenwende", um die Bedeutung des Militärs zu erkennen. Hier hat das Rüstungsunternehmen KNDS – ehemals Krauss-Maffei Wegmann – seinen Deutschland-Sitz. In der bayerischen Landeshauptstadt wird schweres Kriegsgerät produziert, das auch in der Ukraine zum Einsatz kommt.
Deutschland-Chef Ralf Ketzel empfängt unsere Redakteure in seinem Büro zum Gespräch. Durch die Fenster sieht man die Alpen. Ein idyllischer Anblick. Zur sicherheitspolitischen Lage in Europa will er aber nicht recht passen.
Herr Ketzel, seit Beginn des russischen Überfalls auf die Ukraine hat die Rüstungsindustrie massiv an Bedeutung gewonnen. Sind Sie ein Kriegsgewinnler?
Ralf Ketzel: Diese Frage ist schwierig zu beantworten. War das Gesundheitssystem ein Gewinner der Corona-Pandemie? Es ist doch so: Wir müssen Probleme lösen und wir als Industrie liefern dafür die Mittel. Dass die sicherheitspolitische Lage sich fundamental geändert hat, ist nicht erst seit dem Ukraine-Krieg offensichtlich – das begann schon mit dem russischen Einmarsch auf der Krim im Jahr 2014. Da war für die Nato klar: Es geht nicht mehr nur um Einsätze in fernen Ländern. Die Bündnis- und Landesverteidigung wird wieder wichtiger.
Das heißt auch: Der deutschen Wirtschaft mag es schlecht gehen. Die Rüstungsindustrie aber boomt?
Die Rüstungsindustrie läuft öfter antizyklisch. Wenn in der Vergangenheit andere Branchen geboomt haben, hatte die Rüstungssparte schwere Zeiten. Grundsätzlich gilt: Für uns als stark regulierte Industrie spielt die Weltwirtschaft generell keine allzu große Rolle. Es geht vielmehr um die Frage: Welche Mittel kann und will der Staat der Rüstungsindustrie zur Verfügung stellen?
Verteidigungsminister
Ehrlich gesagt nein. In Zeiten des Kalten Krieges haben wir einen deutlich höheren Prozentsatz des BIP ausgegeben. Und auch heute ist es so: Das Zwei-Prozent-Ziel ist nicht vom Himmel gefallen, es ist politisch definiert und in der Nato beschlossen. Ich gehe davon aus, dass man sich sehr genau überlegt hat, was man braucht. Und zwar für einen effektiven Schutz.
Wie viel aus dem Sondervermögen Bundeswehr landet bei KNDS? Bei Rheinmetall rechnet man mit 30 bis 40 Milliarden Euro.
Bei uns wird es weniger sein. Die Mittel, die wir bekommen haben, sind vor allem für Fahrzeugbeschaffung. Da stehen die großen Programme aber erst noch an. Die müssen finanziert werden und wir hoffen, dass dies noch dieses Jahr passiert. Ob das aus dem Sondervermögen sein wird – daran habe ich aber meine Zweifel. Deswegen ist es wichtig, auch im Bundeshaushalt die richtigen Prioritäten zu setzen.
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Ist das mit der Schuldenbremse möglich?
Diese Frage muss die Politik beantworten. Wir sind eine europäisch aufgestellte Firma und wissen: Große Rüstungsprogramme – egal, wo – belasten einzelne Haushalte. Ein Beispiel: Litauen ist ein kleines Land. Wenn es schweres Gerät braucht, ist das eine Herausforderung. Daher ist die Frage legitim, ob große Beschaffungsprogramme nicht besser über die EU finanziert werden müssten.
Aus Ihrer Sicht: Fließt das Geld aus dem Sondervermögen in die richtigen Kanäle?
Auch das sind politische Entscheidungen. Natürlich wissen wir, was die Bundeswehr will – etwa den Aufbau von schweren und mittleren Verbänden mit dem entsprechenden Gerät. Das wollen auch andere Nationen. Daher sind wir zuversichtlich, dass es auch beschafft wird.
Klingt nach einem "Aber".
Rüstung ist eben mehr als unsere Panzer: Material muss nachbeschafft werden, es wird Munition benötigt. Auch das Thema nukleare Abschreckung hat eine neue Bedeutung bekommen. Wir leisten unseren Beitrag, aber wir maßen uns nicht an, zu sagen, dass unsere Leoparden auf der Prioritätenliste ganz oben stehen müssen.
Angenommen, die Bundesregierung würde Ihnen einen Blankoscheck ausstellen: Was könnten Sie der Ukraine unmittelbar liefern?
"Unmittelbar" ist genau das Problem. Wir haben immer einen Vorlauf. Als Unternehmen haben wir schnell agiert und gebrauchtes Material ausgeliefert – etwa den Panzer vom Typ Gepard, sicher eines der jetzt wichtigsten Flugabwehrsysteme in der Ukraine. Nur: Die Fähigkeit, schnell etwas zu liefern, ist jetzt aufgebraucht.
Wie meinen Sie das?
Vor zwei Jahren schon hätte man die strategische Entscheidung treffen müssen: Das wird ein mehrjähriger Krieg. Dann könnten wir heute neues Material liefern. Nur: Das konnte man damals noch nicht mit Gewissheit sagen. Jetzt ist es so: Auch andere Nato-Staaten benötigen Material, zum Teil als Ersatz für abgegebenes Gerät. Das geht zulasten der ukrainischen Soldaten, die derzeit kein überlegenes Gerät haben.
Bei KNDS dauert es vom Auftragseingang an zwei Jahre, bis ein Panzer vom Band rollt. Aktuell bestellen auch andere Nato-Staaten bei Ihnen. Heißt für die Ukraine: Sie muss erstmal warten?
Wenn ein Land bei uns einen Panzer bestellt, kann es entscheiden, ob dieser Panzer an die Ukraine geliefert wird. Das obliegt dem Kunden. Die Verwendung von Kriegswaffen – und dazu gehört auch die Weitergabe – ist eine Frage der nationalen Souveränität. Aber aktuell fertigen wir auch für die Ukraine direkt.
Über die Lieferung der Leopard-Panzer von KNDS ist lange diskutiert worden. Sie galten als große Hoffnung der Ukrainer. Doch diese Hoffnung ist enttäuscht worden. Woran liegt’s?
Wir haben auf jeden Fall vernünftiges Gerät geliefert. Das ist auch das Feedback, das von ukrainischen Soldaten zurückkommt. Die Situation stellt sich aber so dar: Wir waren vor Ort nicht in militärische Operationen eingebunden. Daher kann die Industrie auch nicht beurteilen, was schiefgelaufen ist. Ich selbst war zwölf Jahre beim Militär und kann sagen: Für erfolgreiche Operationen kommt es immer auf eine Kombination aus Ausbildung, Taktik, operativer Planung und Qualität des Materials an.
Viele der Panzer sind aktuell beschädigt und nicht im Einsatz. Kann KNDS dabei helfen, die Reparaturen zu beschleunigen?
Wir bemühen uns. Es gibt Instandhaltungszentren in der Slowakei und Litauen. Auch Polen unterstützen wir. Das Problem ist: Es ist grundsätzlich nicht einfach, Ersatzteile für schweres Kriegsgerät zu beschaffen. Auch das ist ein Thema, über das wir uns Gedanken machen sollten, wenn die Regierung sagt: Wir wollen kriegstüchtig werden.
Es überrascht Sie, dass im Krieg Material kaputtgeht?
Normalerweise herrscht bei einem Krieg das Bild vor, dass Material an der Front verbraucht wird und dann Nachschub geliefert wird. Wir konnten aber nicht voraussehen, dass es bei der Ukraine um jahrelange Instandsetzung gehen wird. Wir wissen auch nicht, wie groß das Instandsetzungsproblem vor Ort tatsächlich ist. 80 bis 90 Prozent der Reparaturen werden nicht bei uns, sondern an der Front gemacht.
Die Rüstungsindustrie bemängelt, dass es nicht genug Abnahmegarantien für militärisches Gerät gibt. Wie kann das nach zwei Jahren Krieg noch sein?
Es stimmt, wir produzieren nicht auf Vorrat. Das heißt: Ohne staatlichen Auftrag können wir nicht anfangen, einfach Panzer zu bauen. Trotzdem tätigen wir Investitionen und für die braucht es Planungssicherheit – ein Beispiel ist die Logistik, die wir am Standort München für die Produktion des Schützenpanzers Puma neu aufgebaut haben. Wir können neue Werkshallen hochziehen, wir können Roboter hinstellen, neue Mitarbeiter einstellen. Aber die Produktion geht eben erst los, wenn wir den Auftrag dafür haben.
Heißt also, Sie wünschen sich mehr staatliche Unterstützung?
In letzter Zeit sind viele Aufträge für die Ukraine bei uns eingegangen – gerade im Bereich der Artillerie, wo es um circa 50 Systeme geht. Und natürlich hat auch die Bundeswehr weiter Bedarf. Die Beschaffung läuft an. Eine andere Frage ist: Braucht die Bundeswehr mehr, als in der bisherigen Nato-Planung vorgesehen ist? Das kann ich Ihnen aber nicht beantworten. Das muss die Politik tun.
Früher hatte die Rüstungsindustrie ein gewisses Schmuddelimage. Hat sich das geändert?
Da sprechen Sie mit dem Falschen. Ich habe uns nie als sogenannte Schmuddelindustrie empfunden. Und übrigens auch nicht die Länder, die wir in Zeiten beliefert haben, als es nicht ganz so viele Aufträge für die Bundeswehr gab. Hinzu kommt: Wir sitzen in München, hier gibt es eine Reihe großer Unternehmen, die im Bereich Wehrtechnik unterwegs sind. Das ist etwas anderes als im Zentrum Berlins.
Hilft Ihnen die "Zeitenwende" beim Kampf um Fachkräfte?
Wir merken auf jeden Fall, dass mehr Menschen Interesse am Thema haben, Militär und Rüstung positiver sehen – und sich dementsprechend auch bewerben. Außerdem haben wir das Glück, dass die Leute, die schon bei uns sind, auch lange im Unternehmen bleiben. Das ist nicht überall so.
Über den Gesprächspartner
- Ralf Ketzel, Jahrgang 1959, leitet seit 2021 die Deutschland-Sparte von KNDS. Sein Berufsleben war lange geprägt durch die Bundeswehr. Er war Offizier auf Zeit, studierte beim Militär Maschinenbau und war bis 1990 Batteriechef in einem Panzerartillerie-Bataillon. Dann folgte der Wechsel in die Industrie zu Krauss-Maffei Wegmann, heute KNDS.
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