In den USA feiert man heute den Independence Day. In Deutschland fiebert man im WM-Spiel gegen Frankreich mit. In beiden Ländern wird es ein Fahnenmeer geben – doch nur hier stört man sich daran. Zu Recht?
Der Tag am 4. Juli lässt die Herzen der meisten Amerikaner höher schlagen. Bei schönem Wetter wird im Kreis der Familie gegrillt, daheim oder im Park. Danach geht es noch auf eine Parade und am Abend genießt man das große Feuerwerk und das gute Gefühl, einer großen Nation anzugehören. Zumindest antworten viele Amerikaner so oder so ähnlich, wenn sie danach gefragt werden, wie sie ihren Nationalfeiertag verbringen. Patriotismus, so die Botschaft, ist in den USA nicht nur völlig normal, sondern erwünscht.
"Amerikaner sind sich bewusst, dass die Deutschen aus historischen Gründen ein angespanntes Verhältnis zur Nation haben", sagt Markus Kienscherf, Soziologieprofessor am John-F.-Kennedy-Institut der Freien Universität Berlin. "Aber in jüngerer Zeit habe ich oft von Amerikanern gehört, dass Deutschland doch wirklich genug Grund hat, stolz auf sich zu sein."
Harmlose Heimatverbundenheit?
Tatsächlich wäre nichts Falsches daran, auf die Demokratie in Deutschland oder "deutsche Wertarbeit" stolz zu sein. Wenn das Ganze aber in Überheblichkeit gegenüber anderen Nationen ausschlägt, wird aus unverkrampftem Patriotismus schnell gefährlicher Nationalismus. Doch wo ist die Grenze zwischen beiden? "Ein Patriot ist jemand, der sein Vaterland liebt. Ein Nationalist ist jemand, der die Vaterländer der anderen verachtet", formulierte es der frühere Bundespräsident Johannes Rau.
Patriotismus und Nationalismus haben die Verbundenheit mit dem eigenen Heimatland gemein. Und eine Prise Patriotismus gehört zu einem internationalen Wettbewerb wie der Fußball-WM dazu. Genauso wie Public Viewing, das meist als positives Gruppenerlebnis betrachtet wird und nicht ohne Grund das Gefühl der Zusammengehörigkeit verstärkt – ein Gefühl, das die eigene Identität maßgeblich beeinflusst. Rückt jedoch statt dem gemeinsamen Spaß die Abgrenzung zu anderen in den Vordergrund, handelt es sich um nichts anders als Deutschtümelei.
Nationalismus ist Rassismus
Wie schnell aus harmlosem Partypatriotismus Fremdenfeindlichkeit werden kann, zeigt sich an verschiedenen Beispielen. Mit einer Werbeanzeige zum WM-Spiel zwischen Deutschland und Ghana hat etwa der Autovermieter Sixt vor kurzem rassistischen Motiven Vorschub geleistet. Über dem Slogan "Ghana – Das könnte eng werden" stehen sich ein mit viel zu vielen Menschen überladener Truck und blitzsauberer, moderner Mercedes gegenüber. Die Botschaft? Der unterentwickelte Gegner aus Afrika kann dem technisch überlegeneren Deutschland nicht das Wasser reichen.
Solche Ausrutscher könnten häufiger werden. Denn seit der WM 2006 hat der Patriotismus in Deutschland zugenommen. Sich auch jenseits von sportlichen Großereignissen eine Fahne in den Vorgarten zu stellen, ist nichts Ungewöhnliches mehr. "Man ist ganz klar gewillt, sprichwörtlich Flagge zu zeigen", stellt Kienscherf fest. Doch es gibt auch Ausnahmen, wie ein Beispiel aus Berlin zeigt. Dort hängen zwar auch dieses Jahr zur WM munter Deutschlandflaggen von den Balkonen. Daneben steht dann aber beispielweise auf einem Plakat, so groß wie ein Betttuch, frei nach Schopenhauer: "Wer sonst nichts hat zum stolz sein, hat immer noch Patriotismus."
Auch Kienscherf gibt zu: "Ich habe generell ein gespaltenes Verhältnis zum Patriotismus, egal um welchen Patriotismus es sich handelt. Ich bin der Meinung, dass es absurd ist, auf etwas stolz zu sein, woran man selber keinen Verdienst hat. Nation ist etwas Abstraktes. Man sucht sich nicht aus, in diese oder jene Nation hineingeboren zu werden. Deshalb bin ich eher stolz auf meine eigenen Leistungen." Das Spiel will er sich heute Abend trotzdem anschauen.
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