Polen polarisiert weiter. Der Rechtsruck scheint ungebremst, die Rechtsstaatlichkeit des deutschen Nachbarn wird auf eine harte Probe gestellt. Wo führt das alles noch hin? Antworten eines Polen-Experten.

Ein Interview

Sie haben sich vorerst wieder beruhigt. Die Beziehungen zwischen der Bundesregierung und der konservativen polnischen Regierungspartei Recht und Gerechtigkeit (PiS) von Jaroslaw Kaczynski.

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Berlin hatte den Rechtsruck im Nachbarland und konkret eine "Reform" des Verfassungsgerichts sowie ein umstrittenes Mediengesetz kritisiert.

Warschau reagierte erbost, monierte eine angebliche Einmischung in innere Angelegenheiten – und die PiS bemühte antideutsche Ressentiments.

Doch wofür steht diese Partei, die sich so weit aus dem Fenster lehnt? Warum hat sie aktuell so viel Vertrauensvorschuss durch die Bevölkerung? Und wo führt das noch hin?

Im Interview mit unserer Redaktion gibt Polen-Kenner Dr. Stefan Meister Antworten.

Herr Meister, wie tickt die nationalkonservative PiS?

Die PiS ist eine Partei, die für ein konservatives Familien- und Wertebild steht. Sie ist gegen liberale Reformen, zum Beispiel was gleichgeschlechtliche Ehen und Homosexualität betrifft.

Ähnlich wie bei vielen anderen europäischen nationalistischen Parteien geht es um das traditionelle Familienbild. Ängste gegen Überfremdung von außen werden geschürt, der Blickwinkel ist antieuropäische und contra Europäische Union gerichtet, antirussisch und antideutsch.

Der Fokus liegt sehr stark auf der polnischen Nation und dem Schutz traditioneller Werte.

Und die PiS hatte bei den Wahlen einzig Erfolg, weil sie für diese Werte steht?

Nein. Entscheidend war, dass viele Wähler von der vergangenen Regierung enttäuscht waren. Es war vielmehr eine Wahl gegen die Platforma Obywatelska, kurz PO.

Weil sich die liberale PO nicht für die Belange der Mehrheit interessiert hat, haben viele aus Protest die PiS gewählt. Es geht auch um die soziale Frage. Die PiS versprach die Erhöhung des Kindergeldes, höhere Löhne, die Verbesserung des Lebensstandards vieler Polen.

Die patriotisch-nationalistischen Elemente standen gar nicht so im Vordergrund. Das war nicht das Entscheidende.

Dennoch sind die Bedenken groß.

Die Gesellschaft ist gespalten. Zum einen gibt es die ländliche Bevölkerung, die sehr katholisch geprägt und nationalistisch eingestellt ist, die PiS unterstützt und auch für deren soziale Forderungen steht.

Einige Sozialgesetze wurden ja auch prompt umgesetzt. Es gibt aber vor allem die städtische Bevölkerung, die die PiS weitgehend ablehnt. Sie lehnt die antieuropäischen und antideutschen Töne ab.

Es gibt jede Woche Demonstrationen. Die Zivilgesellschaft organisiert sich. Viele warten aber erst einmal ab, was da eigentlich passiert.

Der Rechtsruck, das Antieuropäische und das Antideutsche – sind diese Phänomene typisch für die politische Kultur Polens?
Das sind typische Elemente für populistische Parteien. Das muss nicht speziell mit Polen was zu tun haben. Das Phänomen, ein Freund-Feind-Bild aufzubauen, haben sie auch in Frankreich oder in Russland. Man sucht sich einen Gegner.

Das Antideutsche trifft in Polen natürlich durch die Geschichte auf einen Nährboden. Ein Teil der Bevölkerung ist immer noch skeptisch gegenüber Deutschland und Russland.

Was die EU betrifft, ist Polen ein recht "junges" Mitgliedsland, aber ein "später" Nationalstaat, der sich deshalb nicht zu viel von Brüssel sagen lassen will.

Was bedeutet der Rechtsruck innenpolitisch für Polen?

Innenpolitisch polarisiert er. Die politischen Eliten werden stigmatisiert, Mitglieder der Vorgängerregierung sollen etwa verklagt werden. Medien werden instrumentalisiert.

Außerdem gibt es Lagerkämpfe zwischen verschiedenen politischen Gruppen, was Kräfte bindet, die deshalb zum Beispiel nicht in wirtschaftspolitische Reformen gesteckt werden können.

Und außenpolitisch?

Mit Blick auf die EU isoliert sich Polen. Unter der Vorgängerregierung ging es vor allem in der Ostpolitik voran. Jetzt ist an die Stelle eines Landes, das Konzepte schafft, ein Problem getreten.

Polen versucht ja auch eine Lagerbildung mit anderen östlichen Mitgliedstaaten herbeizuführen.

Wie weit kann das gehen? Wäre selbst ein Austritt aus der EU denkbar?

Nein, das glaube ich nicht. Es gibt eine große Mehrheit in Polen, die ganz klar für die EU ist. Die aktuellen Geschehnisse sind auch eine populistische Reaktion auf die Flüchtlingskrise.

Aber die PiS wird keine Mehrheit gegen die EU bekommen, dazu profitiert Polen viel zu sehr von der Union und die Bevölkerung ist viel zu sehr proeuropäisch eingestellt.

Wie weit rechts ist Polen denn dann wirklich?

Die Frage ist schwierig zu beantworten. Es gibt sehr liberale, städtische Bevölkerungsschichten, die sehr stark westlichen Lebensmodellen entsprechen, was zum Beispiel auch die Toleranz von Homosexualität betrifft.

Das Stadt-Land-Gefälle ist jedoch groß. Die Haltung auf dem Land ist meist patriotisch, national-polnisch orientiert. Man muss sehr stark zwischen Stadt-Land und Ost-West unterscheiden, da der Osten Polens viel ländlicher geprägt ist.

Man muss die konservativ geprägte Landbevölkerung von der liberal geprägten Stadtbevölkerung unterscheiden. Rechts ist nicht der richtige Begriff.

Dr. Stefan Meister ist Programmleiter Osteuropa, Russland und Zentralasien am Robert Bosch-Zentrum für Mittel- und Osteuropa der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik e.V. (DPAGP). Zu seinen Fachgebieten gehören die östliche Partnerschaft der EU sowie die Ostpolitik Polens. Von August 2013 bis Juli 2014 war er Senior Policy Expert im Wider Europe Team des European Council on Foreign Relations. Der Politikwissenschaftler arbeitete zudem mehrfach als Wahlbeobachter für die OSZE.

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