Brauchen Menschen mit Migrationshintergrund eigene Parteien, die ihre Interessen vertreten? Nein, meint die Türkische Gemeinde. Auch eine Politologin räumt solchen Neugründungen kaum Chancen ein.

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Die neu gegründete politische Vereinigung Dava will nach eigenen Angaben Menschen unterschiedlicher Herkunft als Kandidaten für die Europawahl aufstellen. Unter den 15 Kandidaten seien "nicht nur Menschen mit türkischen Wurzeln", sagte Dava-Vorsitzender Teyfik Özcan der Deutschen Presse-Agentur.

Die Demokratische Allianz für Vielfalt und Aufbruch (Dava) war Mitte Januar mit der Ankündigung an die Öffentlichkeit getreten, an der Europawahl am 9. Juni teilnehmen zu wollen. Zu den Kandidaten, die Dava bislang vorgestellt hat, gehören unter anderem zwei Männer, die sich zuvor in Islamverbänden engagiert hatten. Özcan (53), der Vorsitzende der neuen Vereinigung, tritt selbst nicht an.

Vorwürfe, Dava sei der verlängerte Arm der islamisch-konservativen türkischen Regierungspartei AKP von Präsident Recep Tayyip Erdogan, wies Özcan zurück. Den Namen Dava habe man gewählt, weil man im Sinne eines erfolgreichen Politik-Marketings gehofft habe, damit Aufmerksamkeit zu erhalten. Diese Rechnung sei dann auch aufgegangen.

Im Türkischen bedeutet "Dava" "Sache", "Ereignis", "Mission" oder "Verfahren", im juristischen Kontext auch "Klage". Das Wort weckt aber ebenso Assoziationen zu dem arabischen Begriff "Dawa", der "Einladung" und im religiösen Zusammenhang "islamische Missionierung" bezeichnet. Der türkische Journalist Can Dündar, der seit 2016 in Deutschland im Exil lebt, hört Anklänge an traditionelle Konzepte der türkischen Rechten heraus, wie er in einem Radio-Beitrag für den WDR erklärte.

Kandidaten mit Aktivitäten bei Islamverbänden

Zu den angekündigten Kandidaten der Vereinigung, die nach Angaben des Vorsitzenden perspektivisch auch eine Parteigründung anstrebt, gehören mit Ali Ihsan Ünlü und Mustafa Yoldas zwei Männer, die durch ihre Aktivitäten bei Islamverbänden bekannt geworden sind. Ünlü stand über mehrere Jahre dem niedersächsischen Landesverband der Türkisch-islamischen Union der Anstalt für Religion (Ditib) vor. Ditib ist die größte Islam-Dachorganisation in Deutschland. Sie untersteht der Religionsbehörde Diyanet in Ankara, die Imame in die rund 900 Moscheegemeinden entsendet und bezahlt. Wegen seiner großen Nähe zu Erdogan steht der Bundesverband seit Jahren in der Kritik. Das Bundesinnenministerium, die türkische Religionsbehörde und Ditib hatten sich im Dezember auf eine schrittweise Beendigung der Entsendung von Staatsbediensteten aus der Türkei als Religionsbeauftragte nach Deutschland geeinigt.

Yoldas ist den Sicherheitsbehörden durch sein Engagement für die vom Verfassungsschutz als islamistisch eingestufte Bewegung Milli Görüs und ideologisch verwandte Gruppen bekannt. Außerdem stand der Arzt aus Hamburg einst dem 2010 verbotenen Verein Internationale Humanitäre Hilfsorganisation (IHH) vor.

Politikwissenschaftlerin sieht bei Dava keine Chancen auf Erfolg

Nach Einschätzung der Politikwissenschaftlerin Karen Schönwälder hat Dava ebenso wenig Chancen auf Erfolg wie frühere Parteigründungen in Deutschland, die vor allem um Menschen ausländischer Herkunft geworben hatten. Dazu zählt etwa die Allianz Deutscher Demokraten (ADD), die 2017 bei der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen 0,1 Prozent der Stimmen erhielt.

Auch international seien Parteien, die sich an Migranten und Migrantinnen oder eine bestimmte nationale Herkunftsgruppe wenden, kaum erfolgreich, sagte die Forscherin vom Max-Planck-Institut zur Erforschung multireligiöser und multiethnischer Gesellschaften in Göttingen der Deutschen Presse-Agentur. Zwar gelinge es den deutschen Parteien in der Summe weiterhin nicht in ausreichendem Maße, Bürger mit Migrationshintergrund anzusprechen. Dennoch hätten sich gerade Deutsche mit Wurzeln in der Türkei etwa seit den 1980er Jahren "engagiert an demokratischen Prozessen in Deutschland beteiligt", betonte die Politologin. Unter migrantischen Kandidaten für politische Ämter, Abgeordneten und Amtsträgern seien sie im Vergleich zu anderen Herkunftsgruppen deutlich stärker repräsentiert.

Was die Chancen einer Partei, die stark um Türkeistämmige wirbt, nach Ansicht von Schönwälder zusätzlich mindert, ist die Tatsache, dass deren Vertreter auch unter Deutschen mit Migrationshintergrund weniger bekannt seien als die führenden Politiker und Politikerinnen der großen Parteien. "Schließlich leben diese Menschen in Deutschland und nehmen hier an gesellschaftlichen Debatten teil." Ihre politischen Anliegen unterschieden sich nicht grundlegend von denen anderer Menschen. Dass das von der Ampel-Koalition auf den Weg gebrachte neue Staatsangehörigkeitsrecht, das die doppelte Staatsbürgerschaft grundsätzlich ermöglicht, daran etwas ändern wird, glaubt die Wissenschaftlerin nicht. Entsprechende Befürchtungen hatten mehrere Politiker von CDU und CSU in den vergangenen Tagen geäußert.

Türkische Gemeinde mahnt zu mehr Gelassenheit

Die Bundesvorsitzende der Türkischen Gemeinde in Deutschland (TGD), Aslihan Yesilkaya-Yurtbay, mahnt hier zu mehr Gelassenheit. Sie sagte: "Ich erwarte mehr von der Union als den billigen Versuch, sich sofort auf die erst kürzlich beschlossene doppelte Staatsangehörigkeit zu stürzen." Auch wenn die Dava-Partei Erdogan ideologisch wohl nahestehe, bedeute dies nicht, "dass man sie als reine Erdogan-Partei abstempeln sollte". Außerdem sei es falsch, zu glauben, "dass türkeistämmige Menschen grundsätzlich Erdogan unterstützen oder ein Sicherheitsrisiko darstellen".

Der Dava-Vorsitzende Özcan war rund 30 Jahre lang Mitglied der SPD. Seine neue Bewegung beschreibt er als "wertkonservativ, aber auch mit progressiven Ideen". Vorschulbildung sei für ihn ein wichtiges Thema, sagt er. Im Dava-Wahlprogramm heißt es: "Dava verpflichtet sich zum Schutz der Familie durch eine Politik, die traditionelle Werte und Strukturen in den Vordergrund stellt." Außerdem will sich die Bewegung für eine Anerkennung muslimischer Verbände als Körperschaften öffentlichen Rechts einsetzen. (dpa/szu)

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